Stehe ich an dem Punkt im Leben, an dem ich in meinem Alter stehen wollte?
Die Lebensmitte als kritische Phase der Identität
Ich dachte bisher – überspitzt formuliert – Midlife-Crisis, das ist was für Männer, die sich mit 50 eine Lederjacke und ein Motorrad kaufen, ihr dünner werdendes Haar blondieren und noch mal eine zwanzig Jahre jüngere Frau daten, um der eigenen Vergänglichkeit für wenige Jahre zu „entkommen“.
Stellt sich raus: Auch als Frau, die auf die 40 zugeht, bist du voll im Game.
Ich hatte damit nicht gerechnet. Nicht jetzt. Nicht so.
Vielleicht auch, weil bisher alles in meinem Leben ein leichtes delay hatte – bedingt durch meinen holprigen Start. Meine psychischen und körperlichen Erkrankungen haben die Uhren in meinem Leben umgestellt.
Sollte ich in der Grundschule noch eine Klasse überspringen, war mit der Überholspur kurze Zeit später Schluss. Die Pubertät verbrachte ich in psychosomatischen Kliniken und bei der Psychoanalyse. Während meine Freund*innen erste, speichelfeuchte Küsse im Kino bekamen, kämpfte ich mit lebensbedrohlichem Untergewicht.
Vor dem Abi zwangen meine Panikattacken mich dazu, ein Schuljahr zu wiederholen. Ich schloss die Schule mit 20 ab, begann eine Ausbildung zur Fahrradmechanikerin. Mein Plan: Wenn ich tagsüber mit den Händen arbeite und etwas Praktisches tue, tut das meiner Psyche gut. Nach einem halben Jahr strich ich die Segel und begann ein Grafikstudium.
Ich heiratete mit 27 zwar wesentlich früher als die meisten meiner Freund*innen, aber diese Eheschließung bedeutet nicht das, was man im Allgemeinen mit einem solchen Schritt verbindet: Sich gemeinsam ein Leben aufbauen, eventuell eine Familie gründen. Mein Ex-Mann ist über 20 Jahre älter als ich, er hatte vieles, was ich noch vor mir hatte, bereits erlebt. Wenn ich heute auf diese Entscheidung schaue, dann verstehe ich: Diese Ehe gab mir die Chance, nachzureifen. Den Schutz und Halt der ehelichen Sicherheit zu genießen, während ich erste Schritte in die Welt machte. Was mir als Kind und Jugendliche aufgrund schwerer Familienverhältnisse verwehrt geblieben war, musste ich nachholen.
Als ich nach dem Scheitern der Ehe in Berlin strandete und alle ungelösten Fragen mich überfielen, geriet ich in eine drei Jahre andauernde Krise. Und gleichzeitig ging ich Schritte, wichtige Schritte für mich. Ich intensivierte meine Therapie, ging noch einmal in eine Klinik.
Danach riss ich das Ruder in einem gewichtigen Teil meines Lebens herum: Ich bewarb mich doch noch für einen Studienplatz an der Schreibschule Hildesheim. Wollte den Traum vom Schreiben endlich wahrmachen. Im folgenden Herbst startete das Studium, 2020 erschien mein erstes Buch. Ich begann, eigene Workshops und Schreibkurse zu geben, begleitete andere Menschen beim Schreiben ihrer Bücher. Vieles schien mit einem Mal richtiger zu sein als viele Jahre zuvor.
Aber auch in all diesen Jahren, der Zeit von 30 bis 35, hatte ich das Gefühl, den gesellschaftlichen Erwartungen an dieses Alter hinterherzuhinken. Ich lebte wieder in WGs, teilte mir Küche, Bad und eine gewisse Orientierungslosigkeit mit meinen Mitbewohner*innen. Ich sah nicht so alt aus wie ich war und ich fühlte mich auch nicht so. Unter meinen Kommiliton*innen bewegte ich mich „inkognito“. Niemand kam von allein auf die Idee, dass ich mich bereits in meinem zweiten Studium befand, geschieden war und viele Jahre Selbstständigkeit auf dem Buckel hatte. Diese Zeilen, die ich in dem Buch „Die Nomadin“ von Jagoda Marinic las, fangen das Lebensgefühl dieser Jahre so gut ein:
„(…) ich lebe mit meinen dreiunddreißig Jahren noch immer fast zweiundzwanzigjährig und das ist gut so, denn ich muß dem Leben etwas Zeit zurückstehlen. Ich lebe mit Juliana und Paul, dreißig und siebenunddreißig. Auch sie leben zweiundzwanzigjährig, obwohl sie, im Gegensatz zu mir, nicht so aussehen. Ich hingegen könnte mich, ohne daß es einer merkte, inmitten einer Horde Gymnasialoberstufenschüler ins Kino schleichen.“
Dem Leben etwas Zeit zurückstehlen – das war lange mein Motto. Die Erkrankungen hatten für mich die Pausetaste gedrückt. Also musste ich doch noch Zeit haben, das nachzuholen, was man „normalerweise“ in diesem Lebensabschnitt erlebt. Und ich hatte mir meine 30-er immer ganz anders vorgestellt. Gesettelter irgendwie. Und nun waren sie eine Art und-täglich-grüßt-das-Murmeltier meiner Zwanziger.
Natürlich soll das “Gesettelt Sein” an dieser Stelle nicht unhinterfragt als Ziel und Sinn des Lebens proklamiert werden. Es gibt zahlreiche andere Lebensentwürfe, die nicht weniger erstrebenswert sind als das klassische Bild von Familie, Eigenheim und Labrador. Die Seite fremdwort.de definiert „gesetteltsein“ übrigens so:
„In Bezug auf eine Person kann "gesettelt" bedeuten, dass sie sich in einer stabilen, langfristigen Beziehung befindet oder dass sie zufrieden und zufrieden mit ihrem Leben ist. Sesshaft werden. Bodenständig sein. Ursprung ist der englische Begriff "settle down", sich niederlassen, oder – im übertragenen Sinne – in der Gesellschaft einrichten, beständig werden.“
So weit so verkürzt. Denn natürlich ist Zufriedenheit kein Dauerzustand, den wir ab einem gewissen Punkt X erreicht haben – sobald wir eine langfristige Partnerschaft, einen lukrativen Job und einen Bausparvertrag haben. Sobald wir den Erwartungen der Gesellschaft entsprechen. Dann wären alle Menschen, die das vorweisen können, glücklich und nicht die Inspirationsquelle für die Drehbücher von ZDF-Melodramen. Trotzdem ist der Wunsch nach Familie und/oder Partnerschaft, wenn vorhanden, natürlich legitim.
Nachdem ich mich um einige wichtige mentale Baustellen gekümmert hatte und einen beruflichen Weg für mich gefunden hatte, der sich endlich nach mir anfühlte, entstand Anfang 30 bei mir die innere Bereitschaft, mich auf eine Partnerschaft auf Augenhöhe einzulassen. Und ich hatte großes Glück und traf in den Weiten des Internets auf meinen heutigen Mann. Wir sagen übrigens beide, dass wir froh sind, uns erst mit Mitte 30 kennengelernt zu haben. Früher wären wir vermutlich gar nicht füreinander bereit gewesen.
2022 heirateten wir im kleinen Kreis. In den Monaten danach saß ich manchmal in unserer gemeinsamen Wohnung, sah dem Sonnenlicht zu, das über den Boden wanderte, atmete tief ein und hatte das Gefühl, dass mein inneres und äußeres Leben sich langsam übereinanderlegten. Wie zwei Folien, die über zehn Jahre lang leicht verschoben gewesen waren. Jetzt ergab meine Silhouette einen Scherenschnitt mit klaren Konturen, nicht mehr dieses verwischte Bild, das aussieht als wäre zu viel Fett auf der Frontkamera. In dieser Zeit entdeckte ich auch erste graue Haare auf dem Kopf und mein Hals legte sich bei manchen Bewegungen in Falten, die er früher nicht hatte produzieren können. Gewissermaßen hatte ich das Gefühl, dass ich mit einem leisen Klicken von der Pausetaste des Lebens aufgestanden war. Kurz darauf hatte ich einen frühen Abgang, meine chemische Schwangerschaft.
Ein Jahr und eine Endometriose-OP später sitzen wir im Kinderwunschzentrum – unklar, ob unser Traum von der eigenen Familie sich noch erfüllt. Und plötzlich spüre ich das, was ich lange nicht gespürt habe: Die Ahnung, dass manche Wünsche bald nicht einmal mehr die Chance haben, wahr zu werden.
Bei manchen Wünschen bleibt zumindest die Möglichkeit ihrer Erfüllung lange bestehen (und seien sie noch so klein). Du kannst auch mit 60 noch schlagartig berühmt werden – theoretisch. Als Mensch mit Zyklus und Kinderwunsch liegen die Dinge anders. Dieses Fenster der Möglichkeiten schließt sich. Und das wurde plötzlich RICHTIG spürbar. Nicht als vage Ahnung, sondern als akute Bedrohung. Ich hatte unvermittelt Augenkontakt mit der Endgültigkeit, die das Leben immer hat, aber die wir verdrängen können, solange wir jung genug sind.
Beim Thema Familiengründung haben Menschen mit Zyklus das Nachsehen. Wir können nicht mit Ende 40 noch mal eben entspannt ein Kind bekommen, nachdem wir uns beruflich in aller Ruhe verwirklicht haben, bevor wir mit einem zehn bis fünfzehn Jahre jüngeren Mann eine Familie gründen. Ich beneide Männer glühend um diese Möglichkeiten. Was für ein verschwenderischer Umgang mit Zeit ist dann möglich!
Menschen mit Zyklus sind durch das Fenster ihrer Fruchtbarkeit gezwungen, sich mit der eigenen Vergänglichkeit und dem Eintritt in das Alter viel früher auseinanderzusetzen. Mit der Menopause wartet ein Übergang, eine Transitionszeit auf uns. Ein Phänomen, das uns noch einmal mehr mit dem Kreislauf aus Werden und Vergehen konfrontiert – viel vehementer, als es der Menstruationszyklus bis dahin ohnehin getan hat.
Wenn ich mit 70 theoretisch noch Kinder zeugen kann, kann ich mich in diese Gewissheit oder zumindest diese Hoffnung hineinlehnen, mich in einer Art von Unsterblichkeit wiegen. Das Moralische, das sich aus den Konsequenzen für die Kinder ergibt, möchte ich an dieser Stelle nicht diskutieren. Auch um das mitunter harte Erwachen nach dieser langen Phase der „unbegrenzten“ Möglichkeiten beneide ich Männer nicht.
Für Menschen mit Zyklus aber knüllt sich alles in die Zeit zwischen 30 und Anfang/Mitte 40. Hier werden Weichen gestellt, die sich später nicht mehr umstellen lassen. Dieser Druck lastet an manchen Tagen auf mir wie ein zentnerschweres Gewicht. An anderen, vorzugsweise wenn ich auf einem meiner Spaziergänge durch die Wälder des Taunus streife, kann ich momentweise loslassen. Kann eine Art Schicksalsergebenheit spüren. Mich dem Gedanken hingeben: „Es kommt, wie es kommen soll“.
Aber die Ängste flackern zuverlässig wieder auf. Jetzt, wo ich mich endlich so bereit für Kinder fühle, wie man sich wahrscheinlich überhaupt je fühlen kann, ist es vielleicht schon zu spät. Denn auch wenn die Sehnsucht nach einer eigenen Familie mich schon unglaubliche fünfzehn Jahre begleitet – lange hab ich es mir nicht wirklich vorstellen können. Da wäre ein Kind an meiner Hand mir vorgekommen wie ein Kind an der Hand eines Kindes. In meinen Zwanzigern war mein Kinderwunsch zwar vorhanden, fühlte sich aber gleichzeitig so absurd an wie die Protagonistin in Jagoda Marinics Roman es in Worte fasst:
"Oft denke ich, daß das Leben mild zu mir ist, viele beneiden mich sogar darum, daß es mich so langsam altern läßt; doch manchmal denke ich, es ist härter zu mir als zu anderen, weil ich in meinem Gesicht nichts von dem sehen kann, was ich versäumt habe zu tun, zu fühlen, zu leben. In meinem Gesicht keine Spur von der Mutter, die ich nie geworden bin und vielleicht nicht werde.
(…) Oft, wenn ich mich in einem Spiegel sehe, frage ich mich, wann ich eigentlich vorhabe, so alt auszusehen, wie ich tatsächlich bin. Ich werde alles verpassen, was Menschen in meinem Alter zu erledigen haben, nur, weil keiner mir dieses Alter abkauft, nicht mal ich selbst. Die Männer sehen in mir ein Kind, und ein Kind benutzen sie nicht für Kinder. Manchmal, wenn ich in Parks sitze und mir Mütter ansehe, frage ich mich: Warum sind sie Mütter und ich ein Kind? Juliana hingegen sieht aus, als wäre sie Mutter, ist aber keine, das ist vielleicht eine Kombination, die ebenfalls keine Freude bereitet.“
Erst jetzt ändert sich das. Erst jetzt komme ich mir vor wie jemand, der eine Mutter sein könnte.
Ich habe einfach verdammt lange zum Erwachsenwerden gebraucht. Zu lange?
Was, wenn ich nie Kinder bekommen werde? Was, wenn wir zu zweit bleiben? Das Bett nur ein Ehebett, kein Bett für eine Familie. Was, wenn ich nie kleine Füße in kleine Schuhe stecken werde? Keine Schlaflieder singe? Keine Schaukel anschubse und keine Nächte lang einen kleinen, hustenden Körper durch die Wohnung trage? Wohin mit all der Zärtlichkeit? Es ist eine Zärtlichkeit ohne Zuhause.
Bei alldem frage ich mich aber auch immer wieder: Welche Wünsche sind meine? Ich glaube, die Sehnsucht ist meine. Aber was ist mit dem Druck? Was ist mit dem Gefühl, in den Augen der Gesellschaft minderwertig zu sein, wenn ich auf die Frage „Habt ihr Kinder?“ mit „Leider nein“ antworten muss? Als würde mir irgendein Mangel anhaften, wenn ich diese Rolle nicht erfülle.
Wieviel weniger Stress würde ich empfinden, wenn es für Frauen im Patriarchat nicht immer noch so „vorgesehen“ wäre, Mutter zu werden? Was wäre, wenn es mehr kinderlose Frauen in meinem Umfeld gäbe? Wäre die Last dann kleiner und ich würde mich nach der notwendigen Trauerarbeit mit der Alternative leichter und selbstbewusster anfreunden können?
Aber es ist nicht nur das Familienthema. Überhaupt nicht. Es ist auch die Frage, was mich und mein Leben ausmacht, abseits von meiner Gebärmutter und ihrer Fähigkeit, Leben auszutragen. Denn mein Körper ist so viel mehr als das.
Ich sehe das Leben vieler Freund*innen, meiner Schwestern, meine ehemaligen Kommiliton*innen: Da gibt es zwar meistens Kinder. Aber auch Eigentumswohnungen. Und ETFs. Da gibt es finanzielle Polster und viele Stationen im Linked-In Profil mit bekannten Namen. Ich kann diese Dinge nicht „vorweisen“. Obwohl ich sie mir alle gewünscht hätte.
Ich bin fasziniert und erleichtert, als ich im Internet auf ein Interview mit der Psychologin Pasqualina Perrig-Chiello stoße. Darin sagt sie:
„Trotz aller individuellen Unterschiede ist das mittlere Lebensalter generell eine krisenanfällige Zeit, eine beunruhigende Phase, häufig voller Selbstzweifel und Mutlosigkeit – ähnlich wie die Pubertät oder die Pensionierung, die ja ebenfalls in fast jedem Lebenslauf wichtige, oft krisenhafte Übergangsphasen sind.“
Warum reden wir darüber so wenig?
Vielleicht, weil unsere Gesellschaft Erfolg so gern hat. Weil wir gerne die Stories mit Happy End sehen und auf Instagram ungeniert die Familienbilder, Hochzeitsfotos, Urlaubsdomizile und Karrieresprünge der anderen verfolgen. Die Gleichaltrigen zeigen uns, wie das gelungene Leben auszusehen hat.
Wer oder was erzählt von all dem, das noch nicht oder gar nicht wahrgeworden ist? Was ist mit diesen Leerstellen? Wir haben keine Fotos von ihnen, wir haben keine Zertifikate, keine sichtbaren Spuren in unseren Lebensläufen.
Sie tauchen nirgendwo auf – aber in uns, in uns tauchen sie auf. Nachts, wenn wir nicht schlafen können. Im Park, wenn wir aus dem Augenwinkel die Familien der anderen beim Sonntagsausflug beobachten. Beim Ehemaligentreffen, auf dem wir das Gefühl haben, die Karrieren der ehemaligen Kommiliton*innen seien viel steiler als unsere. Beim Konzert, auf dem wir uns fragen, ob wir auf dieser Bühne hätten stehen können, wenn es nicht anders gekommen wäre.
Kein Lebensentwurf entbindet uns von diesen Fragen. Sie gehören zur Lebensmitte unweigerlich dazu, egal, für welchen Weg wir uns entschieden haben oder zu welchem uns das Leben gedrängt hat. Perrig-Chiello fasst es wie folgt zusammen:
„So facettenreich die Probleme auch sein mögen, eine Frage tritt oft auf: die nach dem Sinn. Welchen Sinn hat meine Arbeit? Welchen Sinn meine Beziehung? Welchen Sinn mein Leben? Hatte ein Mensch bis dahin noch eine Perspektive, ein Ziel für sein Streben, so geht es vielen von uns in der Lebensmitte oft verloren. Etliches erscheint erreicht, gewohnt, etabliert. Schmerzlich wird uns bewusst, dass wir nicht mehr alle Pläne verwirklichen können – und Angst plagt uns, das Leben nicht „gelebt“ zu haben, ein „falsches“ Leben aufgebaut zu haben.“
Das falsche Leben aufgebaut haben. Ein erschreckender Gedanke, der mit kalten Fingern nach unserem Herzen greift. Aber – was soll das überhaupt sein, ein falsches Leben? Gab es jemals eine Alternative?
Vielleicht, wenn reine Bequemlichkeit dazu geführt hat, dass man wichtige Entscheidungen nicht getroffen hat. Meistens aber sind es Ängste, die uns abhalten. Oft können wir etwas nicht loslassen, weil wir die Sicherheit eines Geländers noch brauchen.
Ist das falsch? Wohl kaum. Ist das schade? Wahrscheinlich.
Aber genau hier liegt der Unterschied zwischen Bedauern und Reue. Ich kann bedauern, dass mein Leben so verlaufen ist, wie es verlaufen ist. Ich bereue es aber nicht – denn vieles lag nicht in meiner Hand. Nein, mit 38 stehe ich nicht da, wo ich mal dachte, dass ich in diesem Alter stehen würde. Das kann ich betrauern.
Aber das finde ich fast noch leicht. Viel schwieriger finde ich die Sache mit der Unsicherheit. Fragen in der Schwebe auszuhalten. Ich stelle es mir leichter vor, irgendwann zurückzuschauen und sagen zu können: Jetzt ist es entschieden. So ist es nun. Jetzt kann ich anfangen, es zu verarbeiten. Aber für einige Jahre werde ich nun noch in diesem Spannungsfeld umherwandern. Hoffnung, die alte Bitch, lässt sich nie ganz vertreiben.
Das alles aufzuschreiben, tut gut. Ich möchte diese Gedanken nicht verdrängen, so tun, als ob nichts wäre. Ich halte sie auch nicht für ungesund, trübsinnig oder unnötig. Ich glaube, dass die bewusste Auseinandersetzung mit diesen Gefühlen dazu führen kann, Entscheidungen zu treffen, Prozesse anzustoßen und noch einmal Veränderungen vorzunehmen, die für unser weiteres Leben wichtig sind. Verdrängen wir unsere Ängste, stehen die Chancen viel höher, dass uns erst viel später ein „was wäre gewesen, wenn“ einholt.
Setze ich mich aktiv mit meinen Befürchtungen auseinander, kann ich entsprechende Schritte unternehmen, um sie abzuwenden. Das gelingt natürlich nicht immer. Aber zu wissen, dass ich alles in meiner Macht stehende getan habe, lässt mehr Raum dafür, später meinen Frieden mit dem Ergebnis machen zu können.
Aber wie stehen die Chancen eigentlich dafür? Was erwartet mich nach der Rush-Hour des Lebens, diesem stressigen Nadelöhr? Auf der Website einer psychosomatischen Klinik begegne ich dem Begriff der „U-Kurve des Glücks“:
„Einen festen Zeitpunkt, wann die Midlife-Crisis einsetzt, gibt es nicht. Das allgemeine Wohlbefinden sinkt bei vielen ab Mitte 30 und durchschreitet mit Mitte 40 eine Talsohle. Danach nimmt die Zufriedenheit wieder stückweise zu. Forscher sprechen in diesem Zusammenhang von einer „U-Kurve des Glücks“, die in den unterschiedlichsten Kulturen auftritt.“
Vielleicht ist das so. Sollte ich in 20 Jahren einen Blogartikel dazu verfassen, kann ich darüber berichten. Dann sind diese Zeilen Zeugnis einer Phase der Unsicherheit über Fragen, die in dieser Zukunft entschieden sein werden. Bis dahin lebe ich weiter in die Ungewissheit hinein.
Dieser Text zum Thema “Geschwindigkeit” entstand im Rahmen des einwortKollektivs, das wir hier auf Substack gegründet haben. Das einwortKollektiv besteht aus sechs Autor*innen, die sich alle zwei Monate von einem gemeinschaftlich bestimmten Wort inspirieren lassen.
Das einwortKollektiv besteht aus:
– ich danke dir für das Lektorat dieses Textes im Rahmen unserer Arbeit im EinwortKollektivIn den kommen Wochen werden sich auch die anderen Autor*innen des Kollektivs dem Thema “Geschwindigkeit” widmen und es auf ihre ganz eigene Weise schreibend beleuchten. Stay tuned!
Wow, was für ein Text! Holt mich gerade sehr ab in einem Moment, in dem ich mich frage wo das noch hingehen soll wenn die Talsohle erst Mitte vierzig erreicht ist 😅 aber so ist das halt mit den Zweifeln und den Unsicherheiten, hier und da kommen sie dabei und manchmal ziehen sie einem so richtig einen mit der Keule über. Irgendwie beruhigend zu wissen, dass in den meisten Fällen das Zukunfts-Ich in der Lage sein wird, über all das mal zumindest zu schmunzeln.
Rund um meinen 30. Geburtstag habe ich in der Rückschau auf meine 20er festgestellt, dass ich mit dem Wissen von heute damals einiges anders gemacht hätte und heute vielleicht an der Stelle stehen würde, an der ich heute gern wäre. Aber ich konnte damals nur die Entscheidungen treffen, die sich zum damaligen Zeitpunkt richtig angefühlt haben und lediglich Vermutungen anstellen, welche Auswirkungen das auf mein weiteres Leben nehmen wird, denn in die Zukunft schauen kann niemand. Und damit muss ich meinen Frieden schließen, denn bestimmte Umstände liegen auch einfach nicht in meiner Hand (zB in welchem sozialen Umfeld man aufwächst).
Nichtsdestotrotz bin ich im Großen und Ganzen zufrieden mit meinem aktuellen Leben und versuche, das Beste aus den Möglichkeiten zu machen, die sich mir bieten. Und die Entscheidungen, die ich selbst treffen kann, auch aktiv zu gestalten (zB freiwillige Kinderlosigkeit).
Für deinen weiteren Weg wünsche ich dir auf jeden Fall alles Gute und viel Glück, liebe Kea. Ich danke dir für deine persönlichen Einblicke! 🩵