Als ich Teenager war, flimmerte bei uns im heimischen Wohnzimmer in schöner Regelmäßigkeit das Logo der heute-Nachrichten über den Bildschirm oder es ertönte die Titelmusik der Tagesschau.
Liebgewonnene Rituale. Nachrichtensendungen, die uns über den Lauf der Dinge informierten.
Daneben gab es noch Printzeitungen, bei uns hin und wieder mal die Frankfurter Rundschau – und das war es dann auch schon. Kein Google, kein Twitter, keine sozialen Netzwerke.
Kein 24 h am Tag verfügbarer Strom von Headlines, alle polarisierend oder verkürzend, die uns dazu bringen wollen, den nächsten Klick zu machen.
Jetzt setzt sich unsere Welt aus Fragmenten zusammen, aus Informationsschnippseln, manche nur wenige Sekunden lang. Hunderte davon, tausende, jeden Tag.
Und oft konsumieren wir das einfach – wir klicken weiter und weiter, Tab um Tab, wir scannen Überschriften, wir verlassen Videos vor ihrem Ende, unsere Aufmerksamkeit ist unendlich zerstreut. Was hängen bleibt, sind: Krisen. Schrecken. Ohnmacht.
Das Gefühl, das sich aufdrängt: Alles wird immer schlimmer.
Und das macht Angst. All das, die Art wie wir Medien konsumieren und die Art, in der Medien über die politische Lage schreiben, all das macht etwas mit uns. Mit uns als Individuum. Und mit uns als Gesellschaft.
Wie in den Medien und in ihrer kaleidoskopartigen Streuung mit Worten umgegangen wird, das formt Bilder. Bilder, die wir uns von der gesellschaftlichen Lage machen. Von der Bedeutung von politischen Fragen wie Waffenlieferungen, Flüchtlingszahlen oder AfD-Wahlerfolgen.
Und doch zoomen wir selten raus. So weit, dass wir uns Gedanken darüber machen, was da eigentlich passiert mit der Art, WIE in den Medien über derlei Dinge geschrieben wird.
Vor mehr als einem Jahr, im Sommer 2023, sah ich auf Kulturzeit ein Interview mit Jagoda Marinic, das bis heute bei mir nachwirkt.
Darin ging es genau um diese Frage: Was erzählen wir uns eigentlich für Geschichten?
Wir erleben die Welt auch durch die Geschichten, die über sie erzählt werden
Ein Begriff, der in den letzten Jahren immer öfter bemüht wird, ist der Begriff “Narrativ”. Aber: Was ist eigentlich – ein Narrativ?
Wikipedia definiert es wie folgt:
Als Narrativ wird seit den 1990er Jahren eine sinnstiftende Erzählung bezeichnet, die Einfluss auf die Art hat, wie die Umwelt wahrgenommen wird. Es transportiert Werte und Emotionen, ist in der Regel auf einen Nationalstaat oder ein bestimmtes Kulturareal bezogen und unterliegt dem zeitlichen Wandel.
Bekannte Beispiele sind der Mythos Vom Tellerwäscher zum Millionär und der Aufruf zum Wettlauf zum Mond, der in den USA starke Kräfte gebündelt und die Nation hinter einer Idee versammelt hat. Bestimmendes Element hinter einem Narrativ ist eher ein gemeinsam geteiltes Bild mit starker Strahlkraft als der Wahrheitsgehalt.
Weit verbreitet ist die Meinung, dass Narrative gefunden und nicht erfunden werden.
Die Medien und allen voran die Algorithmen und damit auch die Firmen, die diese Algorithmen und unsere Apps programmieren, formen also, welche Narrative von uns als Gesellschaft gefunden werden.
Und Sprache ist ein mächtiges Werkzeug. Was wir immer wieder lesen, das glauben wir irgendwann, das geht in unseren Sprachschatz über und prägt unser Verständnis von der Welt. (Wenn du ein Beispiel dafür haben möchtest, lies gern in diesen Artikel von mir hinein, in dem ich mich auf die Suche nach den Wurzeln des Begriffs „Illegale Migration“ gemacht habe, die in den Wochen vor den Landtagswahlen in fast jeder Headline vorkam.)
Eine Erzählung, die mir immer wieder begegnet, ist die der Krise.
Da waren die Eurokrise, die Bankenkrise, die Flüchtlingskrise, die Wirtschaftskrise durch Corona, die geopolitischen Krisen durch Kriege und Konflikte, die inflationsbedingte Krise, die Klimakrise…
Wenn ein Wort derart inflationär gebraucht wird, lohnt sich ein Blick auf die Sprache. Was ist eigentlich eine Krise? Auch dafür hat Wikipedia eine Antwort parat:
Eine Krise (lateinisch Crisis) ist im Allgemeinen ein Höhepunkt oder Wendepunkt einer gefährlichen Konfliktentwicklung in einem natürlichen oder sozialen System, dem eine massive und problematische Funktionsstörung über einen gewissen Zeitraum vorausging und der eher kürzer als länger andauert.
Eher kürzer statt länger – das trifft auf viele der beschriebenen Krisen nicht zu.
Die “Klimakrise” ist sicher kein kurzzeitiges Problem. Die “Flüchtlingskrise” wird so schnell nicht abebben, da sich die Zahl der Menschen auf der Flucht in den kommenden Jahren verfielfachen könnte. Die Weltbank schätzt, dass bis zum Jahr 2050 bis zu 143 Millionen Menschen zu Klimaflüchtlingen werden könnten. (Quelle: Welthungerhilfe).
Ist es also hilfreich, wenn wir von Krisen sprechen? Wenn “Krise” ein Zustand ist, der sich überwinden lässt, durch die richtige Lösung, durch eine stete Anstrengung? “Krise”, dieses Wort impliziert, dass in naher Zukunft wieder etwas anderes kommt. Nach der Krise. Und hier kommt das nächste Narrativ ins Spiel, das in Headlines, die mit dem Krisen-Begriff hantieren, oft im Subtext befeuert wird: Die Vorstellung des „Damals-war-es-besser“. Damals, dieser ominöse Ort in der Vergangenheit, den wir, angewärmt von Melancholie und Sehnsucht nach der eigenen Jugend, gern verklären.
Wenn Politiker*innen kritisiert werden, wenn Schuldige gesucht werden, wenn die eigenen Gefühle von Ohnmacht und Ratlosigkeit nicht mehr kompensiert werden können, dann greift immer wieder diese Vorstellung, dass es mal „gut“ war und dass wir da doch wieder hinkommen können – irgendwie.
Wann wird es denn endlich mal wieder ruhiger?
“Kann es nicht mal wieder schön sein?” Ganz ehrlich – diesen Gedanken hatte ich auch schon.
Diese Sehnsucht ist aus unserer Historie und Sozialisierung in den 70er, 80er und 90er Jahren erklärbar. Hilfreich für die Zukunft ist sie nicht. Denn ruhiger wird es in absehbarer Zeit vermutlich nicht mehr werden. Die Wahrheit ist: Wir leben in herausfordernden Zeiten – das Klima, der Krieg, die wachsende Zahl von Menschen auf der Flucht, die wachsende Kluft zwischen Arm und Superreich.
Wer im Siegestaumel des Kapitalismus aufgewachsen ist, der kennt die Aufstiegserzählungen. Aber wie erzählt man Inflation? Wie erzählt man das Schrumpfen? Ein Weniger-als-vorher-Haben? Wie erzählt man, dass wir alle mehr zusammenrücken, verzichten, teilen müssen?
Mit dieser Perspektive umzugehen, fällt schwer.
Jadoga Marinic machte im Interview in der Kulturzeitsendung auf 3sat den richtigen und klugen Vorschlag eines neues Krisen-Narrativs (Sendung vom 21. Juni 2023).
„Niemand hat mehr eine Utopie, eine Vision, eine Geschichte, wo die Menschen sagen, da geht es in Zukunft hin“, sagte Marinic. Und sprach davon, dass durch diese Sprachlosigkeit, diese Unfähigkeit, der neuen, krisengeschüttelten Realität eine Erzählung beizugeben, eine Leerstelle entsteht, in die die politische Rechte stößt.
Das Narrativ der Krise spielt den Rechten in die Hände
Denn die Rechte knüpft an die alten Bilder an. Simple Parolen mit der Botschaft, dass es irgendwie wieder so „gut werden könnte wie früher“. Sie ignoriert die Komplexität der globalisierten Welt und setzt auf nationale Abschottung.
An dieser Stelle wird die Sehnsucht nach dem vermeintlich „guten“ Gestern gefährlich.
Weil sie die Angst vor „Überfremdung“ schürt – oder, wie Marinic es ausdrückte: „Die Angst dass sie kommen, die Angst, dass sie es hier besser haben als man selbst, wo man doch so hart gearbeitet hat.“
Und sie forderte, das Angstszenario durch ein Lösungszenario zu ersetzen. Die Krisen anzuerkennen und zu benennen und sich gleichzeitig auf die Grundwerte zu besinnen, die wir uns als Gesellschaft gegeben haben:
„Als europäischer Kontinent, der immer noch einer der reichsten Kontinente der Welt ist, müssen wir in der Lage sein, ein funktionsfähiges System zu haben für die Migration, die es geben wird, für Menschen auf der Flucht, die es geben wird. Also vorbereitet zu sein auf das, was sich jetzt schon längst angedeutet hat. Die Krisenerzählung, die da ist. Den Mut zu haben, sie zu erzählen, der Bevölkerung gegenüber reinen Wein einzuschütten und zu sagen: Es ist hart, aber wir haben Lösungskonzepte und in diese Richtung werden wir gemeinsam gehen.“
Es ist hart, aber wir suchen nach Lösungen. Für mich liegt hier ein Knackpunkt. Den Mut zu haben, der Gesellschaft reinen Wein einzuschenken.
Denn – welche Politiker*innen trauen sich das?
Und: Welche Wähler*innen wollen das wirklich hören?
Wer stellt sich hin und sagt: Ja, vielleicht wird es nie wieder so leicht und unbeschwert, wie es (ohnehin nur für einen privilegierten Teil der Gesellschaft und Welt) einmal war? Gewinnt man mit so einer Haltung die Stimmen der Wähler*innen? Vermutlich nicht. Dabei wäre es doch ein Beweis für eine intakte Realitätsorientierung.
Wie soll die Politik unbequeme Wahrheiten vermitteln?
An die Politiker*innen formulieren Wähler*innen und Medien Ansprüche, die nicht mehr zur aktuellen Zeit zu passen scheinen: Politiker*innen sollen Lösungen haben. Sie sollen keine Fehler machen. Und das Land, zack zack, aus der Krise führen.
Aber so wird es nicht funktionieren. Solange wir als Wähler*innen und solange die Medien als Vermittlungsinstanz zwischen Politik und Bürger*innen einem Krisen-Narrativ anhängen, das besagt, dass die „richtige“ Politik die Dinge schnell wieder in Ordnung bringen kann, solange spielen wir den Rechten in die Hände.
Wenn wir die Erzählung nicht ersetzen, die Erzählung des „es kann wieder werden wie es war“, dann wenden sich die Menschen der Partei zu, die genau das, erstens, am lautesten verspricht und die, zweitens, nicht in die Verlegenheit kommt, ihre Versprechen durch eine Regierungsbeteiligung an der Realität zu messen.
So können sich die Rechten immer wieder als „geknebelte“ Held*innen inszenieren, die das Land retten könnten, wenn, ja wenn man sie nur mitregieren ließe.
Damit dieses Narrativ nicht mehr greift, müssen wir eine neue Erzählung schreiben.
Wir müssen zulassen, dass Politiker*innen uns die Wahrheit zumuten, auch, und besonders dann, wenn sie in Form einer bitteren Pille daherkommt. Ich wünsche mir, dass es in Politik und Medien eine neue Erzählung gibt, eine Lösungserzählung, die aber gleichzeitig unbequeme Wahrheiten nicht leugnet. Die sagt:
Ja, es IST hart. Und vielleicht wird es nie wieder so „gut“, wie es einmal war. Die Gegenwart und die Zukunft werden uns einiges abverlangen und es gibt keinen Quick Fix. Aber wir tun unser Bestes. Also packen wir es an.
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Liebe Kea, herzlichen Dank dir für diesen wichtigen und klaren Text, so gut, dass du das alles aufzeigst. Eines mag ich noch hinzufügen: Die guten „alten“ Zeiten war so schön auch nicht, ich kann mich gut erinnern, wie lähmend und bleiern die Kohl-Ära war, wie viel Angst Tschernobyl gemacht hat und wie aussichtslos die Lage des Waldes in den frühen 90ern schien. Für Menschen, die sensibel waren und keine Mitläufer, gab es auch damals nicht viel Hoffnung. Rassismus war auch damals an der Tagesordnung, die Misogynie massiv, Queerness eine Aufforderung zusammengeschlagen zu werden. „Gut“ war diese Zeit nur für ganz wenige, die meisten davon waren weiße Cis-Männer.
Auch daran dürfen wir uns erinnern, auch das ist Geschichte. Alles andere ist tatsächlich ein Narrativ, das gerne von Rechten gepflegt wird, an das man aber nicht anknüpfen sollte.
Herzlichen Dank nochmal für dein Engagement, als das zusammenzustellen und aufzuschreiben. Herzlich, Kathrin
Hallo Kea, dein Text hat mich nachdenklich und hilflos gemacht. Ich habe mich lange so überhaupt gar nicht mehr mit Nachrichten beschäftigt. Vor einigen Wochen habe ich gedacht "Das kann es auch nicht sein" und wieder langsam begonnen....Und es tut mir nicht gut. Drückt mir aufs Gemüth, werde lustlos...Ich weiß noch nicht wie ich weiter damit umgehe.
Danke für das Teilen deiner Gedanken .
Liebe Grüße Jeanette