Das einwortKollektiv besteht aus Autor*innen, die sich alle zwei Monate von einem gemeinschaftlich bestimmten Wort inspirieren lassen. Dieser Text ist Teil der Edition SCHNITT. Die Texte der anderen Autor*innen dieser Ausgabe erscheinen auf den Substack-Blogs von Sofia B, Franziska König, Vivian Sper, und Oliwia Hälterlein.
Disclaimer: Sollten wir nicht froh sein, dass wir alt werden dürfen? Ja, selbstverständlich sollten wir das. Viele Menschen erhalten dieses Geschenk nicht, weil sie in anderen, weniger privilegierten Teilen der Welt oder der Gesellschaft leben.
Aber auch in diesem Bereich, wie in so vielen, darf es ein sowohl-als-auch geben und nicht ein entweder-oder. Ich kann dankbar sein dafür, dass ich überhaupt älter werden darf und gleichzeitig darf ich mit all dem, was damit als Frau in einer misogynen Gesellschaft einhergeht, Schwierigkeiten haben. Darum geht es in diesem Artikel.
Nächstes Jahr werde ich 40 und das macht etwas mit mir
Das Altern ist wie eine Tür, durch die du fällst. Eine Drehtür mit nur einer Richtung. Viele Jahre sah ich jünger aus als ich war. Niemand glaubte mir, dass ich die 30 bereits überschritten hatte. Und während dieser Jahre hatte ich Angst: Angst davor, dass das Altern mit einem Mal in mein Leben fallen würde, wie der Schatten eines Baumes es tut, wenn die Sonne plötzlich um die Ecke biegt. Und so war es. Genauso war es. Alles verrückt sich um einige Meter nach links – und jetzt liegt die Jugend hinter einer Tür, in einem Raum, den du nicht mehr erreichen kannst. Nur in Gedanken, in Erinnerungen, im Instagram-Archiv, #throwback. Dir wird klar: Nie wieder wird meine Haut so straff sein wie vor 10 Jahren. Das ist unwiederbringlich. Und diese Erkenntnis ist nicht nur aus ästhetischen Gründen schmerzhaft. Sie schließt unmittelbar an eine Frage an, die mit ihren spitzen Fingern zwischen meine Rippen sticht: „Was willst du noch, Kea? Was soll noch wahr werden?”
Die Pubertät ist vielleicht die erste Phase, in der wir uns fragen, welchen Weg wir einschlagen wollen. Die Phase rund um 40 ist eine weitere.
Wenn wir jung sind – Kinder, dann Jugendliche, dann junge Erwachsene – streben wir ins Leben, das sich anfühlt wie ein unendlicher Raum. Wir wollen endlich groß sein. Eigene Entscheidungen treffen.
Später schauen wir zurück und wünschen uns die Unbeschwertheit dieser Jahre zurück. Weil all die Verantwortung für das „Gelingen“ unseres Lebens mitunter ganz schön schwer auf unseren Schultern liegt.
Für Frauen, die im Patriarchat sozialisiert wurden, ist diese zweite Phase der Reflexion mit besonderen Herausforderungen verbunden. Weil wir unser Leben lang eingetrichtert bekamen, dass wir nur so lang einen Wert haben, so lang wir jung und schön sind.
Ich wünschte, das würde mich nicht kümmern. Ich wünschte, es wäre mir egal, dass Frauen in unserer Gesellschaft mit zunehmendem Alter unsichtbarer werden. Ich wünschte, es wäre mir egal, wie ich aussehe, wie und ob ich gesehen werde. Es ist mir nicht egal.
Das kommt nicht von ungefähr. Innerhalb der patriarchal geprägten Gesellschaft sollte die Frau lange nicht mehr sein als Gebärmaschine und Dekoration. Jenseits dieser Funktionen wartete die Bedeutungslosigkeit.
Wir haben Frauen über Jahrhunderte auf diese Weise sehen gelernt, bewerten gelernt, wir haben Generation nach Generation über die Klippe des Unsichtbarwerdens gestoßen.
Es wird Zeit, dass wir erleben, dass wir mehr sind als das, was die Gesellschaft für den Zeitraum von circa 40 Jahren für uns vorsieht.
Angst vor dem Älterwerden als Frau – auch eine Frage der Repräsentanz
Ja, Frauen werden in Film und Fernsehen sichtbarer in den letzten Jahren. Und doch zeigt diese Studie der Malisa Stiftung eindrucksvoll, dass das Alter dabei eine wesentliche Rolle spielt. Sind Frauen unter 35 noch gleich oft zu sehen wie ihre männlichen Kollegen, nimmt diese Sichtbarkeit mit zunehmendem Alter immer weiter ab:
Quelle: https://malisastiftung.org/frauen-auf-leinwand-ergebnisse-fortschrittsstudie/
Ältere Männer mit jüngeren Frauen, das ist ein Klischee. Das ist aber auch das, was wir seit Jahrzehnten auf der Leinwand sehen. Während Sean Connery in der 70-er Jahre Robin Hood-Verfilmung „Robin & Marian“ noch mit 65 den königlichen Gatten der 30-jährigen Guinevere mimen durfte und sich niemand darüber wunderte (wie undenkbar wäre das umgekehrt!), waren Rollenangebote als Love-Interest für Frauen über 40 eher rar.
Sehen wir heute Falten und graue Haare auf dem Bildschirm und gehören sie zu einer Frau, ist ihr Alter sofort das zentrale Thema. Unlängst erlebt beim “Sex and the City”-Sequel „And just like that“. Ich erwischte mich selbst dabei, wie ich die Gesichter von Sarah Jessica Parker, Kristin Davis und Cynthia Nixon mit denen verglich, die mir in den 2000-er Jahren vom Bildschirm entgegenstrahlten. Ich wollte das nicht tun – es schien ganz automatisch zu passieren. Wir sind von den Medien so konditioniert, dass das Gesicht einer älterwerdenden Frau Fragen aufwirft, die das eines Mannes nicht in sich trägt.
Die Kritiken zu „And just like that“ – ein einziger misogyner Reigen. Sarah Jessica Parker alias „Carrie“ sah den Kritiker*innen zu alt aus. Kristin Davis alias „Charlotte“ hatte zu viel kosmetische Chirurgie walten lassen. Egal, wie sie es machten, sie machten es falsch.
Sarah Jessica Parker sagte dazu in einem Interview in der Vogue:
“Das gibt es so viel frauenfeindliches Geschwätz als Antwort auf uns, das es niemals über einen Mann geben würde. Jeder hat etwas zu sagen: Sie hat zu viele Falten, sie hat nicht genug Falten. (…) Es fühlt sich fast so an, als ob die Leute nicht wollen, dass wir okay damit sind, wie wir sind, als ob sie es fast genießen, wenn wir von dem, wer wir heute sind, gequält sind, egal, ob wir uns dafür entscheiden, natürlich zu altern und nicht perfekt auszusehen oder ob wir etwas tun, das uns besser fühlen lässt“
Am Ende des Interviews fragt sie:
„Ich weiß, wie ich aussehe. Ich habe keine Wahl. Was soll ich tun? Aufhören, zu altern? Verschwinden?“
Ich glaube, die alternden Frauen verschwinden tatsächlich. Schon früh beginnen viele Frauen heute mit den Besuchen beim Schönheitschirurgen, lassen sich aufpolstern, unterspritzen und glätten. Im Nachgang an das Finale der Netflix Reality-TV Show „Love is blind“, wurde eine der Kandidat*innen auf Social Media dafür gelobt, dass sie bei der Reunion so frisch und schön ausgesehen habe (und natürlich, dass sie abgenommen habe -.-). In ihrem Instagram-Profil findet sich ein ausführliches Video über ihren letzten Besuch bei der Aesthetic Nurse Injector ihres Vertrauens. Botox, Filler, stärkeres Kinn, prallere Wangen in wenigen Minuten. Die Kandidatin ist 31. Ich vermute, in einigen Jahren werden wir kaum noch natürlich gealterte Gesichter kennen.
Paulina Porizkov, tschechisch-US-amerikanisches Fotomodell und Schauspielerin, ist 59 Jahre alt und will diesem Trend etwas entgegensetzen – auf ihrem Instagram-Account zeigt sie ihr Gesicht, das bisher ohne chirurgischen Eingriffe gealtert ist. Über 1 Millionen Menschen folgen ihrem Account.
Porizkov spricht über den Druck, den sie tagtäglich erfährt, wenn sie sich mit Kolleg*innen vergleicht, die fast alle irgendwas haben machen lassen. Natürlich ist das Altern für Models, deren Karriere auf ihrem Aussehen basiert, besonders hart. Porizkov sagt:
„An einem Tag will ich mich genau so akzeptieren wie ich bin, am nächsten Tag ziehe ich die Haut in meinem Gesicht zurück, um zu schauen, wie ich aussehen würde, wenn ich ein Facelift machen lassen würde.“
Auf ihrem Profil teilt sie ein Foto von sich und eins von Sarah Jessica Parker und schreibt darunter:
„Jemand in meinem Alter, der aussieht wie ich. Ich sehe meine Falten und meine erschlaffte Haut und meinen silbernen Ansatz wie in einem Spiegel und ich liebe es. Repräsentanz! (…) Noch mal, das soll diejenigen, die sich für andere Optionen entschieden haben, keineswegs geringschätzen. (…) Mein Punkt ist nur, dass alternde Frauen fast aus den Medien ausradiert wurden, so dass diejenigen von uns, die es wollen oder zumindest versuchen würden, es anzunehmen – ohne viel Repräsentation bleiben.“
Natürlich sind SJP und Paulina Porizkov überdurchschnittlich schöne Frauen, die mit Sicherheit eine Menge Zeit bei der Kosmetikerin verbringen und mit nicht-invasiven Methoden wie Microneedling, Hydrafacials, Massagen oder Ultraschallwellen dafür sorgen, dass ihre Gesichter für den Einsatz vor der Kamera bestens vorbereitet sind. Schließlich beschränken sich Schönheitsbehandlungen nicht nur auf chirurgische Eingriffe und “gänzlich unbehandelte” Haut bekommen wir bei den Prominenten vermutlich nie zu sehen.
Aber auch unter Menschen, die nicht im Rampenlicht stehen, ist der Trend hin zu immer mehr optischer Selbstoptimierung ungebrochen – 2019 verzeichnete die International Society of Aesthetic Plastic Surgery (ISAPS) fast 25 Millionen Schönheitsoperationen, neun Jahre zuvor waren es noch knapp 14 Millionen Schönheitsoperationen Eingriffe pro Jahr (Quelle: IKK). Die Vereinigung der Deutschen Ästhetisch-Plastischen Chirurgen verzeichnete 2022 93.853 Operationen, rund 15% mehr als im Vorjahr.
Wieviel freie Wahl wird den zukünftigen Generationen in solchen Fragen bleiben? Wie fühlen wir uns, wenn wir in unserem natürlichen Zustand wirken wie eine seltsame Ausnahme der neuen “Norm”?
Das Ganze ist selbstredend nicht nur eine gesellschaftlich-moralische Frage – es ist auch eine Frage des Geldes. Etliche Accounts auf Youtube dokumentieren detailliert die chirurgischen Eingriffe der Celebrities und legen offen, dass man für ein Hollywood-Gesicht eben auch einen Hollywood-Geldbeutel benötigt – was der ganzen Diskussion auch noch eine klassistische Dimension gibt.
Sprache formt unsere Weltsicht - wie über das Aussehen von älteren Frauen geschrieben wird
Zeitungen werden nicht müde, jene Frauen jenseits der 50 zu loben, die auch im fortgeschrittenen Alter “noch immer” begehrenswert erscheinen. Formulierungen wie diese sind keine Seltenheit:
Für ihr Alter ist sie immer noch ziemlich attraktiv.
Oder: Man sieht ihr ihr Alter gar nicht an.
Oder: Auch mit XY Jahren hat sie noch eine Top-Figur.
Wie die Medien über Frauen(körper) sprechen, das formt auch die öffentliche Meinung. Dabei ist das Problem doch nicht, wie wir mit 50, 60 oder 75 aussehen. Das Problem ist, wie viel Bedeutung immer noch darauf liegt, wie wir aussehen.
Die BILD titelte 2016 mit: “Diese 50 Ladys beweisen es – 50 ist das neue SEXY!” Und entblödete sich nicht, folgenden Aufruf zu starten:
“Und wie schön sind SIE mit 50? Wir suchen die schönsten BILD-Leserinnen mit 50 (oder ein bisschen älter). Mailen Sie ein atemberaubendes Foto (mit Name, Handynummer und Ihrem Alter zum Zeitpunkt des Fotos) an 1414@bild.de. Bei Abdruck gibt es bis zu 250 Euro.”
Man stelle sich diesen Aufruf einmal umgekehrt vor – Fotos von Männern über 50, jeder Abdruck 250 Euro! Es wäre keine Schlagzeile wert. Sie sind ja ohnehin schon überall zu sehen, weil ihnen in Vorständen, auf Pressekonferenzen und in Talkshows Gehör geschenkt wird.
Es ist ermüdend. Auch mit über 50 dürfen die Frauen nicht mit ihren anderen Lebensleistungen in Erscheinung treten. Jetzt werden sie für ihr „immer noch“ frisches Aussehen bewundert. Als wären wir eine Packung Pflücksalat, die auch nach 3 Tagen im Kühlschrank noch erstaunlich knackig aussieht.
Das Dogma der ewigen Jugend, es hält sich, besonders für Frauen, hartnäckig. Und ist gleichzeitig so bigott. Denn es scheint auch eine “Sexyness” und ein Zuschaustellen der eigenen Körperlichkeit zu geben, die nicht gewollt ist. Immer wieder ziehen Frauen, die sich jenseits der 50 weigern, in hochgeschlossener Garderobe und gedeckten Tönen aufzutreten, die Aufmerksamkeit und nicht selten auch den Zorn der öffentlichen Meinung auf sich.
Der mediale Aufschrei
Die Schauspielerin Susan Sarandon, damals 69, sorgte 2016 für eine Tage andauernde Debatte auf ehemals Twitter über ihr Outfit bei den SAG Awards. Unter dem Blazer ihres Anzugs trug sie nur einen BH, was ein Medienkollege zum Anlass nahm, ihren Look als „schrecklich unpassend“ zu kommentieren. Später ruderte er zurück und ließ verlauten, das Outfit sei wunderbar, nur nicht angemessen für die „In Memoriam“-Kategorie, die Susan Sarandon bei der Verleihung moderieren sollte.
In lebhafter Erinnerung ist mir auch noch der Aufschrei um das Dekolleté von Angela Merkel bei der Eröffnung der Osloer Nationaloper 2008. Damals titelte die Welt: „Wie viel Dekolleté darf eine Kanzlerin zeigen?« Und der Kölner Express ließ sich gar zu dem Statement hinreißen: „Mehr Frau war Merkel noch nie“. Selbst Zeitungen im Ausland widmeten sich dem Ausschnitt der Bundeskanzlerin.
Natürlich hat eine Politikerin einen anderen Job als eine Schauspielerin, aber es bleibt doch die Frage: Wäre ein Pendant denkbar? Was müsste ein männlicher Kollege tun, um sich über sein Outfit derart weltumspannend ins Gespräch zu bringen?
Und ist es wirklich Zufall, dass diese Diskussionen besonders Frauen betrifft, die die 50 bereits überschritten haben? Jede Woche zeigen sich viele junge Celebrities auf den roten Teppichen in weitaus freizügigeren Outfits und werden für ihren Look gefeiert und als maximal attraktiv bezeichnet.
Die Sache mit der Reproduktionsfähigkeit
Solange wir Frauen nichts anderes sein lassen, als “attraktiv”, “nicht attraktiv” oder “irgendetwas dazwischen”, solange IST das Altern als Frau in unserer Gesellschaft beschissen beängstigend.
Da ist nichts, mit dem wir einen Mangel an äußerer Jugendlichkeit wettmachen könnten.
Männer können sich Würde, Erfahrung, Reife, Macht, Geld, Einfluss und Status ans Revers heften und damit scheinbar an Attraktivität derartig gewinnen, dass ihr äußerliches Altern zu einer vernachlässigbaren Größe wird.
Eine Frau über 50 kann all das mitbringen und dennoch mit diesen Eigenschaften nicht wettmachen, das sie nicht mehr gebärfähig aussieht. Und hier kommen wir zu einem wesentlichen Punkt – der Ruf nach ewiger Jugend ist für Frauen so gnadenlos laut, weil er scheinbar in unmittelbarem Zusammenhang steht mit ihrer Gebärtüchtigkeit und ihrer Fähigkeit, einen Partner anzuziehen.
Egal wie fortschrittlich unsere Gesellschaft in manchen Punkten sein mag, egal wie viele Frauenquoten wir durchgesetzt haben oder wie theoretisch offen uns die Welt steht – es sind noch immer die alten Rollen, die Frauen in den Augen der Gesellschaft offenbar zu erfüllen haben: Ehefrau und Mutter. Aber – auch das bitte nur bis zu einem bestimmten Alter.
Ich erinnere mich daran, wie fröhlich Zeitungen darüber berichteten, dass Franz Beckenbauer mit 57 noch mal Vater wurde. Da titelte der Spiegel:
Wunschkind – Franz Beckenbauer wird nochmal Vater:
Fußball-Kaiser Franz Beckenbauer sieht mit 57 Jahren erneut Vaterfreuden entgegen. Seine Lebensgefährtin Heidrun Burmester ist im vierten Monat schwanger.
In dem Artikel der Berliner Kurier über “Väter im Opa-Alter” geht es um prominente Väter jenseits der 50. Darin heißt es:
"Für Männer sind sie ein Jungbrunnen", sagt Psychologin Konstanze Fakih. "Noch einmal von vorne anfangen, Kräfte tanken und sich potent fühlen wie ein Hecht im Karpfenteich. So ein Baby hilft den Männern auch, die Depressionen des Alltags zu verscheuchen. "
Kinder als Antidepressivum in der männlichen Midlife-Crisis. Schön. Wie eifrig hingegen debattierten Deutschlands Medien über Soraya Lewe, Sarah Connors Mutter, die im Alter von 50 Jahren noch einmal Zwillinge bekam. Die Headline der Berliner Zeitung dazu:
Die Mutter von Sarah Connor erwartet mit 50 Zwillinge:
Freudige Erwartung im Hause von Sarah Connor (27). Doch nicht die Sängerin selbst, sondern ihre Mutter Soraya erwartet Zwillinge. Dabei ist die Hausfrau schon 50 Jahre alt!
Die BILD fragte Soraya im Interview, ob sie denn keine Bedenken habe, mit 50 Jahren zu alt für eine erneute Schwangerschaft zu sein? Und der Hamburger Diplom-Psychologe Michael Thiel (47) erklärte in diesem Artikel den BILD-Leser*innen:
„Es ist es schwer für eine Frau, die ihr Leben lang Mutter war, plötzlich kein Kind mehr zu haben. Oft ist ihr Wertgefühl und ihr Sinn des Lebens von Kindern abhängig. Mit einer neuen Schwangerschaft kann sie ihre Lebensaufgabe und ihren Lebenssinn verlängern. Sie hat das gute Gefühl, weiterhin gebraucht zu werden. Ihre Freude am Leben möchte sie auch mit 40 oder 50 weitergeben.“
Tja. Der Wert der Frau und ihr Lebenssinn hängt von ihren Kindern ab, Männer hingegen dürfen sich noch mal so richtig potent fühlen – also im Grunde so wie immer. Es ist reizend, das alles.
Paulina Porizkov beschäftigt sich in ihren Beiträgen ebenfalls mit diesen Rollenerwartungen an Frauen und analysiert, woher es kommt, dass ihr Körper mit über 50 anders bewertete wird als ihr 30-jähriger Körper.
„Ich frage mich, ob die Beleidigungen und der Ekel, der über ältere Frauen ausgeschüttet wird, die ihre Sexualität anerkennen, daher kommt, weil es als irreführende Werbung betrachtet wird, wenn eine ältere Frau ihren Körper zeigt? Weil wir nicht mehr brüten können, sollen wir nicht mehr verführerisch sein? Wenn das so ist, akzeptieren wir, dass weibliche Körper nur dazu da sind, Männern zu gefallen und ihren Samen zu tragen. Unser Vergnügen und unser Verlangen sind irrelevant.“
Ich kann mich nicht erinnern, wann Männer über 40 für ihre Sexualität öffentlich so geshamed wurden – ausgenommen natürlich ein Begehren abseits von Beziehung und Ehe, siehe Bill Clinton. Oder ein Begehren für eine – wie könnte es anders sein – deutlich ältere Frau, siehe Emmanuel Macron. Der Rest der Männerwelt altert, liebt und begehrt in jedem Alter weiter, ohne dass es einen moralischen Gerichtshof auf den Titelseiten der Gazetten gäbe, der öffentlich diskutiert, ob ihr Verhalten angemessen sei oder nicht.
Die Missgunst, der Neid, die Abwertung und die Ignoranz, die alternde Frauen erfahren, sind Ergebnis jahrhundertelanger Prägung. All das ist nur möglich, weil Generationen von Frauen akzeptiert haben oder akzeptieren mussten, dass die Welt auf einer Ordnung basierte, in der sie, um es mit Simone de Beauvoir zu sagen, “das andere Geschlecht” waren. Eine Welt, die aus der Perspektive von Männern entworfen wurde, in der sie das Zentrum und wir die Planeten waren, die um diese Mitte kreisten.
Ich kann nur ahnen, wie eine Gesellschaft aussieht, die sich an anderen Prinzipien ausrichtet. Ohne die Bewertung und Verurteilung durch den male gaze und ohne die Verurteilung auch durch andere Frauen, die – im Patriarchat sozialisiert – gelernt haben, in den vermeintlichen Makeln ihrer “Konkurrentinnen” einen eigenen Vorteil zu sehen.
Welchen Platz die (älteren) Frauen in einer solchen Welt hätten? Wer sie wohl wären, wenn wir aufhörten, sie über ihren Körper, ihre Jugendlichkeit, ihre Verfügbarkeit als Gebärende zu definieren?
Es wird noch viele Jahrzehnte brauchen, bis es auf diese Frage eine Antwort gibt. Vielleicht erheblich mehr.
Selbstbewusst altern im Patriarchat – kann ich das als Frau überhaupt?
Natürlich habe ich dieses große Thema mit den Beispielen und Gedanken im Text nur angerissen. So viel tiefer geht die in unsere Gesellschaft eingeschriebene Misogynie, so viele Aspekte weiblicher Biografien und Rollenerwartungen spielen mit hinein, sind miteinander verwoben, bedingen einander.
“In Würde altern”, wie es immer so schön heißt, das scheint mir als Frau in der jetzigen Gesellschaft jedenfalls ein kaum zu erreichendes Ziel zu sein. Wie mit den Geburtstagen umgehen, dem nächsten grauen Haar, den tiefer werdenden Falten, die mich morgens im Spiegel begrüßen werden?
Es wird eine Anstrengung bleiben. Ein Kampf gegen all das, was Social Media, herkömmliche Medien und die Unterhaltungsindustrie im Subtext vermitteln.
Es wird ein Kampf gegen das Unsichtbarwerden sein, es wird ein Ringen um Selbstwertgefühl, es wird die Suche sein nach einem Raum, in dem ich mir als alternder Frau überhaupt erst einmal begegnen kann. Vorurteilsfrei. Über diese Suche werde ich schreiben.
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Danke für diesen Text, liebe Kea! Ich hätte noch 20 weitere Absätze dazu lesen können.🥲
Mir kommt’s manchmal so vor, als wäre die mediale Verwunderung darüber, wie alt diese und jene Frau jetzt aussehe, auch ein Ausdruck des Nichtwissens, wie Frauen jenseits der 30 überhaupt aussehen. Und wenn dann mal eine mit Falten und grauen Haaren sagt: So isset, lebt damit, ich tu‘s auch, dann rennen alle panisch im Kreis und rufen: Wie, so sieht eine Frau mit 50 aus? Und wir wussten von nichts! Das kann ja gar nicht sein!
Es hat schon fast was von Comedy, wenn es nicht gleichzeitig so zutiefst misogyn wäre.
Liebe Lea, vielen Dank für diesen so wichtigen Artikel. Ich kopiere hier meinen Kommentar, den ich beim Teilen von deines Artikels dazu geschrieben habe: "Es wird so wenig darüber gesprochen und doch ist es allgegenwärtig und fast jede Frau leidet innerlich darunter, bewusst oder unbewusst. Auch ich höre jeden Tag diese Stimmen in mir und trotz aller Bewusstheit muss ich Energie und Bewusstheit aufwenden, um diese Stimmen (die uns Frauen ständig herunterziehen und zu etwas anderem machen, als wir sind - Menschen, Seelen, Wesen) entweder zu ignorieren oder an ihnen vorbei zu atmen und zu leben. Meine eigene Strategie seit etwa 20 Jahren ist es, nicht in den Spiegel zu schauen, was bei all den Glaswänden, Aufzügen, Schaufenstern usw. manchmal sehr schwierig ist. Manchmal fühle ich mich wie eine Heldin, weil ich es geschafft habe, durch dieses Spiegellabyrinth zu gehen, ohne auch nur aus dem Augenwinkel einen Blick auf meinen äußeren "Schatten" zu werfen und dadurch aus dem Gleichgewicht zu geraten. Ich lasse mich zwar von meinem Mann fotografieren, schaue mir die Bilder aber nie an, um mich nicht automatisch zu verurteilen. Warum das so ist, wird in dem Artikel wunderbar erklärt. Kaum jemand ist immun gegen die Masse an abwertenden Informationen im kollektiven Feld. Es ist wichtig zu verstehen, welchen Einfluss sie auf uns haben, warum wir uns so fühlen, wie wir uns jeden Tag fühlen und wie wir dann entscheiden, damit umzugehen. Leider müssen wir uns diese Entscheidung immer wieder vor Augen führen und/oder sie gegebenenfalls korrigieren."