Das einwortKollektiv besteht aus sechs Autor*innen, die sich alle zwei Monate von einem gemeinschaftlich bestimmten Wort inspirieren lassen. Dieser Text ist Teil der Edition ZWISCHENRAUM. In den nächsten Wochen erwarten euch wundervolle Texte von Vivian Sper, Sofia B., Antoni Dylan, Oliwia Hälterlein und Franziska König.
Persönlichkeitstest im Internet stellen mich immer vor ein Dilemma. Nicht, weil sie wahrscheinlich wissenschaftlich nicht haltbar sind oder der Komplexität der menschlichen Psyche nicht einmal annähernd gerecht werden. Sondern weil ich bei jeder Frage stocke und nicht sicher bin – als welcher Mensch soll ich das jetzt beantworten?
Als die Person, die ich innerlich bin? Aus meinen Neigungen heraus, meinen Gelüsten, meinen Vorlieben?
Oder als die Person, die ich durch meine Erkrankungen gezwungen bin, zu sein?
Stehen Sie gerne im Mittelpunkt und schmeißen eine Partygesellschaft?
Wenn es nach Lust geht – ja. Wenn es nach meinen Erkrankungen geht – auf keinen Fall!Ist es Ihnen wichtig, an viele Orte zu reisen und Neues zu entdecken?
Theoretisch absolut. In der Praxis habe ich wesentlich weniger Länder und Städte besucht als die meisten Menschen in meinem Alter.Schöpfen Sie Kraft aus dem Austausch mit anderen?
Eigentlich ja. Aber weil mich meine Symptome so viel Kraft kosten, muss ich mich immer wieder zurückziehen und viel Zeit allein verbringen.
Und so geht das immer weiter. Ich weiß nicht einmal sicher, ob ich eine extrovertierte oder introvertierte Person bin. Und manchmal frage ich mich: Wer wäre ich eigentlich geworden, ohne die Limitierungen meiner Erkrankungen?
Nach außen sieht mein Leben, glaube ich, aus wie eines, das man auch einfach als künstlerisch und frei oder etwas unkonventionell einstufen könnte. Eines, das manch einer sogar bewundert. Meine persönliche Erfahrung war etwas anders.
Schon früh verlief mein Weg abseits der “Norm”
Bereits im Kindergarten und der Grundschule musste ich aufgrund meiner Angststörung regelmäßig früher von meinen Eltern abgeholt werden. Oder ich ging gar nicht erst hin. Kurz vor dem Abitur bekam ich so starke Panikattacken, dass ich wochenlang das Haus nicht verlassen konnte. Weil ich mich nicht mehr traute – nicht zum Supermarkt, nicht zum Briefkasten, manchmal nicht einmal ins Erdgeschoss zu meiner Familie zum Abendbrot. Ich musste die 12. Klasse wiederholen und mich, therapeutisch begleitet, mühsam zurück in den Alltag kämpfen.
Als ich mich aus diesem Tief herausgearbeitet und die Schule doch noch beendet hatte, ließ ich mich mit Anfang zwanzig taufen. Es war für mich ein Symbol dafür, dass ich es aus dieser Dunkelheit herausgeschafft hatte, dass es etwas gab, das mich begleitete und mir Kraft gab – denn in vielen Momenten war mir außer Beten nicht viel anderes übrig geblieben.
Als Taufgeschenk überreichte mir meine Stiefmutter eine kleine, silberne Schatulle. Darin fand ich einen Zettel mit den letzten Zeilen aus Roberts Frosts Gedicht „The road not taken“.
Berühmt sind vor allem die letzten 3 Zeilen, von denen es unzählige Übersetzungen gibt. Aber mir ist die Übersetzung aus meiner Schatulle die liebste:
Two roads diverged in a wood, and I —
I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.
Zwei Wege boten sich im Wald mir dar –
ich nahm denjenigen, der weniger begangen war
und das veränderte mein Leben.
Zweifellos war der Weg mit meinen Erkrankungen der weniger begangene. Der Unterschied mag darin liegen, dass es sich in Frosts Gedicht um eine wohlüberlegte und selbstgefällte Entscheidung handelt: Lange steht das lyrische Ich an der Weggabelung und wägt seine Optionen ab. Ich nahm den weniger begangenen Weg nicht aktiv ein – er wurde mir unter die Füße geschoben.
Das Gefühl, anders zu sein…
Ich habe mich in einem unsichtbaren Grenzland bewegt, mein ganzes Leben lang. In einem seltsamen Zwischenraum. Die Menschen um mich herum interagierten mit mir, wunderten sich über mich oder gaben mir Ratschläge, aber meine Sicht auf das Leben lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Seit dem Kindergarten war ich mir dieser Andersartigkeit bewusst, wusste ich, dass ich nicht bestehen würde in dem Becken, in das alle links und rechts neben mir munter hineinhüpften.
Am Vorabend meines 20-Jährigen Abitreffens zum Beispiel habe ich gedacht: Es hat sich eigentlich gar nichts verändert. Ich bin immer noch „die Komische“. Zu Schulzeiten konnte ich nicht in den Unterricht, im Erwachsenenalter ist das, was vermeintlich für 99% meiner ehemaligen Klassenkamerad*innen selbstverständlich ist, ist für mich nach wie vor unmöglich: Ein ganz normaler Job.
Ich habe nie angestellt gearbeitet. Ich bin nie gesund genug gewesen für den ersten Arbeitsmarkt. Es war nicht nur die Angststörung. Im Laufe der Jahre kamen Endometriose, ein Reizdarm und Migräne dazu. Chronische Erkrankungen, die einen normalen Alltag torpedierten. Gleichzeitig so unsichtbare Erkrankungen, dass darauf wenig Rücksicht genommen wurde. Die Selbstständigkeit war für mich deshalb der einzige Weg.
Wie sehr unsere Gesellschaft den Wert eines Menschen an seiner Fähigkeit zur Erwerbsarbeit bemisst, das merkt man eigentlich erst dann, wenn man sie nicht vollumfänglich hat.
In meiner Familie, in meiner Klasse, in meinem Freund*innenkreis gab es lange niemanden, der dieses Schicksal teilte. Keine einzige Person. Ich fühlte mich wie ein Alien. Und das ist ein seltsames Lebensgefühl, wenn es dich über Jahrzehnte begleitet. Ich habe auf dem weniger begangenen Weg viele Gefühle von Einsamkeit und Scham durchlebt.
Auch wenn dieser Weg keine freie Wahl war, so stimmt meiner Erfahrung doch mit der folgender Zeile aus Robert Frosts Gedicht überein: „And that has made all the difference“. Der weniger begangene Weg veränderten definitiv mein Leben. Die Erkrankungen bestimmten es, in erheblichem Maß. So, wie Wasser über die Jahre Stein verformt, so ist mein Leben geformt durch Jahrzehnte voller Schmerzen, Ängste und Verzicht.
Vieles habe ich mich nie getraut, überhaupt zu wollen
In einer Folge der neuen Love-is-blind-Staffel auf Netflix schnappt sich eine Teilnehmerin bei einem Date ein Stand-Up-Paddle-Board und schippert damit über den See. Ich sitze vorm Bildschirm und denke: Stand-Up Paddling, ich weiß, dass es das gibt. Aber ich habe mich bis zum heutigen Tag noch nie gefragt, ob ich das mögen könnte.
Ich habe an viele Dinge nie gedacht. Ich habe mich nicht mal getraut, sie zu wollen. Urlaub. Ein Job im Angestelltenverhältnis mit regelmäßigem Einkommen. Eine Geburtstagsparty mit vielen Menschen, die nur für mich anreisen. (Ein Umstand, der mich vor meiner Hochzeit 2022 übrigens bis kurz vor den Nervenzusammenbruch getrieben hat, weil ich im Vorfeld solche Angst hatte, an diesem Tag auszufallen. Aus diesem Grund waren viel mehr Familienmitglieder und Freund*innen meines Mannes eingeladen als von “meiner” Seite. Das fand ich sehr schade und habe es trotzdem genau so gewählt, weil es mir viel Druck genommen hat.)
Die Sehnsucht nach diesen “normalen” Dingen war und ist groß, aber ich lasse sie nicht immer zu. Sehnsucht muss man sich leisten können. Sie kann einen innerlich wund werden lassen, wenn man sich ihr täglich aussetzt.
Natürlich „schuldet“ einem das Leben im Grunde nichts. Da gibt es kein Versprechen, dass man, nur weil man die Zeugungslotterie gewonnen hat, ein erfülltes Leben haben wird. Und doch – irgendwie rechnet man sich Möglichkeiten aus. Möglichkeiten, die man anhand der Menschen abschätzt, die man kennt. Vielleicht auch Möglichkeiten, die die Gesellschaft als Stationen eines „gelungenen“ Lebens definiert (zumindest an dem Ort, an dem man geboren wurde).
Wie wäre mein Leben gewesen, wenn ich nicht krank geworden wäre?
Das frage ich mich oft. Vielleicht hätte ich die Möglichkeit gehabt, aus meinem Gesangstalent etwas zu machen.
Vielleicht hätte ich früher und fester Fuß fassen können in der Literatur oder im Journalismus. Vielleicht hätte ich Veranstaltungen moderiert und an Podiumsdiskussionen teilgenommen.
Vielleicht hätte ich andere Länder bereist. Nächte durchgetanzt. Wäre in die Politik gegangen (auf lokaler Ebene war ich in meinen 20-ern mal aktiv). Vielleicht hätte ich eine Menge verrückter Sportarten ausgeübt. Oder wäre Schauspielerin geworden. Lust hätte ich zu all diesen Dingen gehabt.
Ich glaube, dass in mir eine sehr viel mutigere, abenteuerhungrige Frau steckt, als meine Erkrankungen es zugelassen haben. Mein Mann nennt mich aufgrund meiner lebhaften Persönlichkeit liebevoll seinen „Quirl“. Aber viel von dieser Quirligkeit kann ich nicht so ausleben, wie ich es eigentlich möchte.
Das heißt nicht, dass ich nicht mehr hoffe. Dass heißt auch nicht, dass es keine Verbesserungen gibt. Ich halte mir die Tür zu einem freieren Leben gedanklich immer offen und werde nicht müde, Therapien, Medikamente oder neue Verhaltensweisen auszuprobieren, die mir helfen könnten.
Trotzdem empfinde ich Trauer über all das, was ich in der Vergangenheit nicht habe machen können. Und empfinde das auch als richtig und gesund. Trauerarbeit gehört zu einem Leben mit chronischen Erkrankungen fast immer dazu.
So oft wischen wir über unsere Traurigkeiten mit tröstenden Gedanken hinweg. Wollen nicht zulassen, dass manche Wahrheiten, manche Realitäten, im Leben schmerzhaft sind. Aber ich will mir meine Verluste nicht schönreden. Will die Traurigkeit nicht abmildern, indem ich behaupte, dass in all dem etwas Gutes liege. Dass meine Erkrankungen mich zum Beispiel auch sensibler, gütiger, tiefer gemacht haben. Natürlich haben sie das. Aber der Schmerz über das ungelebte Leben ist genauso wahr.
Ich glaube, inzwischen ist mein Ziel, schamfrei auf dem weniger begangenen Weg unterwegs zu sein. Denn gehen muss ich ihn so oder so. Deshalb schreibe ich darüber. Um anderen Betroffenen das Gefühl zu geben, dass sie nicht allein sind. Nicht allein mit diesem Leben, das sie führen und das so viel von ihnen fordert. Und nicht allein mit den Gedanken an die anderen möglichen Leben, die wir so gern gehabt hätten.
Auch das lyrische Ich in Robert Frosts Gedicht stellt sich irgendwann die Frage, ob es einen anderen Weg gegeben hätte. Ob es jemals zu diesem Punkt zurückkehren wird, an dem es abgebogen ist. Und es schreibt:
“I doubted if I should ever come back.”
“Ich bezweifelte, dass ich jemals wiederkommen sollte.”
Wir kommen im Leben selten noch einmal an der gleichen Weggabelung vorbei. Es gibt die anderen möglichen Leben nicht wirklich. Nur manchmal, in unseren Gedanken.
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Ich musste beim Lesen an eine Person aus meiner Familie denken. »Warum guckst du fremden Leuten im Internet beim Leben zu?«, hat sie immer gefragt. Weil ich mir oft danach selbst ein bisschen weniger fremd bin. Danke für deine Worte und Offenheit.✨
Liebe Kea, herzlichen Dank für deinen Text. Ich fühle jede Zeile und fühle mich gesehen. Ich trage jeden Moment meines Lebens die durch chronische Erkrankung nicht gelebte Person als Anteil in mir. Betrauern und Integration hilft so sehr. Kennst du das Gedicht von Erich Fried "Aufhebung"? Es begleitet mich gerade sehr und passt gut zu dem Prozess. Starte gut in die Woche, wenn du magst fühle dich auch gesehen 💖, LG Elke