Warum kann ich zur Entspannung nicht Dostojewski lesen?
35 Fragen zwischen Kapitalismuskritik und der Sucht nach Reality-TV
01) Warum gucke ich Reality-TV?
02) Warum entspannt es mich nicht auf die gleiche Weise, ein Buch von Dostojewski zu lesen?
03) Warum schäme ich mich dafür?
04) Warum beruhigt es mich nicht, zu wissen, dass selbst Dozierende an unserem Literatur-Institut “Too hot to handle” gesehen haben?
05) Warum glaube ich trotzdem, dass Künstler*innen, die ich bewundere – Patti Smith, Virginia Woolf oder Susan Sontag – nie mehr als eine Folge solcher Sendungen ertragen würden/ ertragen hätten?
06) Warum sind die größten Influencer*innen in Deutschland Frauen, die sagen: „Diesen Primer benutze ich vor meiner Make-up-Routine“, die ihre „Get ready with me“-Videos teilen und die das “süßeste Kleid ever” verlinken, weil so viele danach gefragt haben?
07) Warum ist das der Influence, unter dem wir stehen?
08) Warum sind nicht die größten Profile die von Menschen, die Vordenker*innen sind, die die Gesellschaft besser machen wollen (natürlich gibt es die, aber es sind wenige und es sind nicht die größten)
09) Warum wundert mich das, wenn wir im Patriarchat und im Kapitalismus leben?
10) Wer wären die Influencer*innen zu Zeiten von Goethe und Kant gewesen, hätte es damals schon Social Media gegeben? (Sicher wären es Cis-Männer gewesen)
11) Seit wann gibt es überhaupt den Kapitalismus? (Die Bundeszentrale für politische Bildung sagt: Eine verbreitete Unterscheidung des Kapitalismus erfolgt in die Phasen Frühkapitalismus (etwa vom ausgehenden 16. bis zum Anfang des 18.Jahrhunderts), Hochkapitalismus (Zeit der industriellen Revolution bis etwa 1870) und Spätkapitalismus (etwa ab dem Ersten Weltkrieg).)
12) Wie hat es der Spätkapitalismus geschafft, uns so chronisch gestresst und überfordert sein zu lassen, dass wir völlig betäubt unser Heil im Konsum von Reality-Shows und Online-Shops suchen?
13) Warum macht es mich so wütend, wenn Menschen sagen, dass sie eben Spaß daran haben, Dinge zu kaufen, wenn klar ist, dass wir darauf konditioniert wurden, daran Spaß zu haben?
14) Warum habe ich selbst so verdammt viel Spaß daran?
15) Warum verstehe ich das und kämpfe trotzdem jeden Monat gegen das Bedürfnis, noch mehr dämliche Schmink-Videos zu sehen und noch mehr dämliche Haarprodukte zu kaufen?
16) Warum gucke ich die Kaulitz & Kaulitz Doku, in der zwei eigentlich sehr liebenswerte Männer aus Magdeburg Champagner trinken und Wohnungen für 7 Millionen Euro besichtigen?
17) Warum höre ich sie auf ihrem Album in “Ain’t happy” singen:
I should love life, but I'm strugglin'
Days passin' by, I don't look at them
Don't leave my house, drown myself in Rosé
und schaue mir ihr “Glamour-Leben” dennoch weiter an?
18) Warum ist es, angesichts all der Alkohol- und Drogenprobleme, Therapien und Suiziden in der Promiwelt trotzdem eins der stärksten Narrative unserer Zeit, dass Geld und Ruhm uns glücklich machen würden?
19) Warum ist es nicht mehr das höchste Ziel, die „eigene Seele auszubilden“, wie es die Stoiker in dem Buch „Stoische Lebensweisheiten“ fordern, das bei uns als Klolektüre im Bad liegt? Nicht aber im Sinne von der egozentrierten Selbstoptimierung via Smartwatch & Habit Tracking, sondern im Sinne von, eine gute Seele sein für die Welt, in der wir leben und uns in die Gesellschaft einbringen.
20) Warum habe ich erst jetzt begriffen, dass die wichtigste Frage, die spannendste Frage überhaupt eigentlich die ist, wie wir als Gesellschaft gut zusammen leben können?
21) Warum interessiert das gefühlt niemanden?
22) Warum macht mich das latent depressiv?
23) Impliziert das Wort Spätkapitalismus, dass es eine letzte Phase ist, bevor etwas anderes kommt? Oder gibt es noch einen Final-Kapitalismus, mit dem dieser kleine Wimpernschlag der Evolution – die Menschheit – sich selbst und ihre Lebensgrundlage auslöscht?
24) Wundert es irgendwen, dass die Erde langsam den Geist aufgibt, wenn wir ein System auf ihr errichtet haben, das auf stetes Wachstum setzt, ein Prinzip, das es sonst nirgendwo gibt und das sich nur der Mensch ausdenken konnte?
25) Wieso hat die Gesellschaft es zugelassen, dass der Konsum zum Zentrum unseres Lebens geworden ist? Wieso wehrt sich die Mehrheit nicht dagegen, sondern schwimmt auf der Welle mit?
26) Wird der Mensch einfach nie weiser, sondern dreht immer nur dieselbe Schleife?
27) Wieso glauben Menschen, dass sie qua Ort ihrer Geburt mehr verdient hätten als andere?
28) Wer denkt manchmal auch, wie können Fußballer und Vorstandsmitglieder Millionen im Jahr verdienen, während zeitgleich in anderen Ländern Hungersnöte herrschen?
29) Wieso kann ich im nächsten Atemzug eine fünfte Jeans bei H&M bestellen und glaube, sie zu brauchen?
30) Wie soll man in so einer Welt eigentlich durchkommen, wenn unser Bedürfnis danach, dazuzugehören, so instinktiv groß ist, dass das bedeutet, irgendwie beim Kapitalismus mitzumachen?
31) Wen macht es auch verrückt, dass es keine Alternative zu geben scheint?
32) Wer erinnert sich noch an die 90-er und daran, wie Tic Tac Toe über die “Haste was biste was”-Attitude sangen und findet auch, dass alles irgendwie immer noch ziemlich ähnlich aussieht?
33) Wer sieht die Klimaaktivist*innen und die jüngeren Generationen, die laut der ZEIT- und SPIEGEL-Leitartikel mehr vom Leben haben wollen als nur Arbeit-Schlafen-Arbeit und hat gleichzeitig den Eindruck, dass sich an den Mainstream-Werten kaum etwas geändert hat, wenn man sich die „erfolgreichen“ Menschen auf Social Media und Magazin-Covern anschaut?
34) Wer ist jetzt auch erschöpft von den vielen Warum-Fragen und fragt sich lieber: Wohin jetzt?
35) Wer schaut nach diesem Artikel, wie ich, wahrscheinlich als nächstes drei sinnlose Reels auf Instagram an?
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Das einwortKollektiv besteht aus 6 Autor*innen, die sich regelmäßig von einem gemeinschaftlich bestimmten Wort inspirieren lassen. Dieser Text ist Teil der Edition KURZ UND SCHLECHT. Die Texte der anderen Autor*innen dieser Ausgabe erscheinen auf den Substack-Blogs von Antoni Dylan Partheil, Sofia B., Oliwia Hälterlein, Vivian Sper und Franziska König.
Liebe Kea,
ich werde jetzt mit diesen Fragen im Kopf (die, die ich mir merken kann) spazieren gehen, ohne Handy und ohne vorher bei Insta reinzuschauen. Wenigstens für den Moment, auch wenn ich weiß, dass ich mich spätestens heute Abend fragen werde: 36. Guck ich noch ne Folge?🥲
30) Wie soll man in so einer Welt eigentlich durchkommen, wenn unser Bedürfnis danach, dazuzugehören, so instinktiv groß ist, dass das bedeutet, irgendwie beim Kapitalismus mitzumachen?
Ich glaube, das ist der springende Punkt. Dass es vielen Personen (mich eingeschlossen) faktisch so unwahrscheinlich scheint, dass dieses Gesellschaftssystem überwunden wird. Mit der Folge, dass sie den Mut verlieren, dass es überhaupt überwunden werden kann (ich je nach Stimmung eingeschlossen).
Und das steht dann auch der Beantwortung von Frage 20, in welcher Form von Gesellschaft wir eigentlich leben wollen, bzw. der Umsetzung dieser Antworten im Weg.
Fuck this shit!