Ich habe alles vergessen, das mein Leben zu dem gemacht hat, was es heute ist. Das stimmt natürlich nicht. Aber es stimmt für den Zeitraum von 0 bis 3 Jahren. Die Ereignisse, die in der Dunkelheit der ersten drei Lebensjahre liegen, kenne ich nur aus Erzählungen. Und größtenteils überhaupt nicht.
Das ist erstmal sehr normal. Niemand erinnert sich an die ersten drei Lebensjahre, heißt es. Dieses Phänomen der Gedächtnislücke wird von der Wissenschaft auch als „Kindheitsamnesie“ bezeichnet. Als Ursache dieses ersten großen Vergessens werden verschiedene Thesen diskutiert.
Ein möglicher Grund für das Nichtvorhandensein von Bildern aus dem Kleindkindalter ist unsere Sprachentwicklung. Ereignisse, die in einer Zeit unseres Lebens stattgefunden haben, in der wir noch nicht in vollem Umfang oder gar nicht über Sprache verfügt haben, sind für uns nicht mehr greifbar. Erst mit drei oder vier Jahren wird unser Wissen sprachlich codiert. Und wie soll unser Gehirn, das heute mit dem Modus der Sprache operiert, auf ein Wissen zugreifen, für das es keine Worte gab? Weder für unsere Gefühle, noch für die Dinge in der Welt?
Der Psychologe Prof. Rüdiger Pohl sagt in einem Artikel über die Kindheitsamnesie auf quarks.de über die Altersspanne von 0 bis 3 bis 4 Jahren: “Was davor gespeichert wurde, ist gleichsam in einem anderen Code geschrieben. Das neue Betriebssystem ist damit nicht kompatibel, der Abruf bereitet Schwierigkeiten.”
Aber unabhängig davon, warum genau unser Gehirn die Informationen, die wir als Babys und Kleinkinder aufnehmen, nicht mehr bereitstellt – all das, was in diesen Jahren geschehen ist und in Nebel und Dunkelheit versunken scheint, schläft nicht. Es hat uns geprägt. Wichtige Entwicklungsschritte finden in diesem Alter statt. Unser Urvertrauen ins Leben entsteht – oder eben auch nicht.
Traumata und Zwischenfälle, die in diese Zeit fallen, werden in unser Nervensystem, in unsere Persönlichkeit eingeschrieben und beeinflussen unser Verhalten teilweise ein Leben lang. Das heißt also – wir erinnern uns nicht bewusst. Wir haben keinen Zugriff auf diese Zeit. Keine Bilder. Keine Gerüche. Keine Klänge. Aber etwas in uns erinnert sich sehr wohl.
Wie sonst könnte man zum Beispiel erklären, dass Kleinkinder, die aus schwierigen Familiensituationen herausgenommen wurden, später häufig Verhaltensauffälligkeiten zeigen? Sie erinnern sich nicht bewusst an das, was zwischen 0 und 3 Jahren geschehen ist. Und doch kann es seine Schatten über das ganze folgende Leben legen.
Auch für mich ist die Zeit meiner ersten Lebensjahre ein Rätsel. Ein Rätsel, das mich irgendwo im Kindergartenalter ausspuckt – als ein bereits verhaltensauffälliges Kind. Meine ersten Erinnerungen sind alle durchtränkt von einem allumfassenden Gefühl der Angst. Das Haus zu verlassen, macht mir Angst. In den Chor oder auf einen Geburtstag zu gehen, macht mir Angst. Ich will nicht richtig essen, nicht in den Kindergarten, nicht auf den Ausflug mitkommen. Meine Eltern werden zu Gesprächen mit Erzieher*innen und Lehrer*innen eingeladen. Es ist klar, dass das, was mir vor meinem dritten Lebensjahr geschehen ist, nicht gut gewesen sein kann. Aber was genau passiert ist – das hat der bewusste Teil meines Gehirns vergessen.
Mit diesem Umstand hadere ich. Ich würde so gerne zurückgehen können. Möchte diese Jahre noch einmal wie einen Film anschauen, will Auslöser finden, Gründe. Aber die Erinnerungen an meine ersten Lebensjahre sind eine Blackbox, die ich niemals bergen kann. In uns allen liegt irgendwo so ein Datenspeicher, auf den niemand mehr Zugriff hat. Und der trotzdem noch blinkt und summt und Signale sendet.
Das schmerzt. Denn diese Daten beeinflussen mein Leben bis heute, jeden Tag. Und wir Menschen mögen das – Sinn vor uns selbst ergeben. Sagen können: aber ja, natürlich, deshalb ist das alles so gekommen.
So lebe ich immer nur mit den Ahnungen. Mit den Schatten, die Ereignisse werfen, von denen meine Eltern mir erzählen. Zumindest von denen, die sie wissen.
Aber wer einmal seinen eigenen Schatten auf der Straße beobachtet hat, der weiß: Ein Schatten ist verzerrt. Der Schatten eines Baumes, eines Menschen, eines Gegenstandes sieht nicht so aus, wie der Baum, der Mensch, der Gegenstand selbst. Es sind verfälschte Versionen des Ursprungsobjektes, Metamorphosen mit sonderbaren Auswüchsen und manchmal ist kaum mehr zu erkennen, was es eigentlich war, das diesen merkwürdig geformten Schatten geworfen hat.
Die Zerrbilder haben Auswirkungen, bis heute, ganz real, in der Gegenwart. Die Schatten bringen mich dazu, immer nach Gefahren Ausschau zu halten. Mit einer Hab-Acht-Stellung durch die Welt zu gehen. Sie haben mir den Weg auf den klassischen Arbeitsmarkt verwehrt und damit meine finanzielle Situation in vielen Jahren prekär sein lassen. Sie bestimmen über mein Sozialleben, darüber, wen ich wo und wo treffe, welche Veranstaltungen ich besuche und welche nicht. Sie bestimmten darüber, was ich anziehe, wo und wann ich esse und ob ich morgens mit heftig klopfendem Herzen aufwache oder nicht.
Und meiner Schatten schäme ich mich. Noch immer. Auch, nachdem ich seit Jahren in der digitalen Öffentlichkeit darüber spreche und 2020 ein Buch über mein Leben mit chronischen psychischen Erkrankungen erschienen ist.
Schatten und Scham, das ist eng miteinander verwoben. Vielleicht haben Schatten das so an sich – das Sich-Verstecken-Wollen. Im Schatten ist das Unsagbare, das nicht-Erinnerte, da sind auch die Dinge, bei denen gemauschelt wird, sie seien nicht ganz „normal“. Im Schatten ist das beheimatet, was nicht ganz „richtig“ ist, zumindest in den Augen der Gesellschaft. Irgendetwas, das immer diese hauchdünne Glasscheibe zwischen mich und die Welt der Gesunden gestellt hat. Angst scheint im Schatten stattzufinden. Vertrauen hingegen braucht keine Deckung. Es steht da, ganz selbstbewusst, in der Welt, mitten im Licht. Es ist weit und tief und standfest. Ich frage mich manchmal, ob sich das Leben für andere Menschen immer so anfühlt. Wie ein gut ausgeleuchteter Park.
Ich habe versucht, mich damit zu trösten, dass es ja trotzdem Fortschritt gibt. In den Behandlungen meiner Angststörung und meiner Depressionen und meine Borderline-Erkrankung. Denn die gibt es und es sind große Fortschritte.
Und doch spüre ich in mir eine Unruhe, ein Wissen-Wollen, wie all das, was mein Leben so aus der Bahn geworfen hat, wirklich ausgesehen hat. Der Wunsch nach „lückenloser Aufklärung“ bleibt. Vielleicht, weil ich glaube, wenn ich mich nur erinnern könnte, dann könnte ich etwas verändern. Dann könnte ich mehr Einfluss nehmen. Dann müsste ich mich nicht damit begnügen, den Wildwuchs in meinem Garten zu stutzen, ich könnte ihn mitsamt seiner Wurzeln ein für alle Mal ausreißen. Heilung durch Erinnern und Verarbeiten. Kann ich etwas je ganz verarbeiten, an das ich mich nicht erinnern kann?
Vielleicht macht mich die Ungewissheit auch so nervös, weil wir als Gesellschaft die Fähigkeit, Uneindeutigkeit auszuhalten, mehr und mehr verlernen. Wir mögen das Narrativ der “vollständigen Heilung”. Die Held*innengeschichte. Den Aufstieg der ehemals Versehrten. Und er soll schnell gehen. Wie der Quick Fix, den uns ein Insta-Carousel-Post verspricht. Unsere digitale Gesellschaft ist es gewohnt, in Sekundenschnelle Antworten auf fast alles zu finden. Aber die meisten Dinge, die im Leben etwas bedeuten, sind komplexer. Und die Erinnerung an unsere ersten Lebensjahre können wir nicht per prime-Bestellung über Nacht zu uns nach Hause beamen. Das ist unbefriedigend. Aber nicht zu ändern.
Also mache ich mich daran, die hellen Flecken auszudehnen. Den Raum zwischen den Schatten größer werden zu lassen, bis sie einander nicht mehr berühren. Und in diesen Räumen mit Ruhe und Selbstsicherheit unterwegs zu sein. Wie meine alte Therapeutin aus Wiesbaden einmal sagte: »Wenn Sie an einem Übel selbst nichts ändern können, stärken Sie zumindest das Gegengewicht.«
Das tue ich. Ich suche sichere Räume, auch in meinem Körper. Indem ich während einer aufkeimenden Panikattacke die sicheren Stellen in meinem Körper ausfindig mache. Meine Ohrläppchen, meinen linken großen Zeh, meine Nase. Das schafft neue Verbindungen, neue neuronale Datenautobahnen in meinem Gehirn. Mich geborgen fühlen. Im eigenen Körper sicher sein.
Ich werde meine frühen Erinnerungen nie zurückbekommen. Aber ich kann neue schaffen. Solche, die ich nicht wieder vergesse. Solche, die keine großen Schatten werfen.
Dieser Text zum Thema “Vergessen” entstand im Rahmen des einwortKollektivs, das wir hier auf Substack gegründet haben. Das einwortKollektiv besteht aus sechs Autor*innen, die sich alle zwei Monate von einem gemeinschaftlich bestimmten Wort inspirieren lassen.
Bereits erschienen sind:
Der Text von Sofia, der sich mit dem Phänomen des Vergessens in Bezug auf ihren Berufsalltag als Ärztin beschäftigt.
Oliwia kartografiert in ihrem Text ihren Schreiballtag am Literaturinstitut in Leipzig, um möglichst wenig davon zu vergessen.
Vivian fällt in ihrem Text ein Relikt aus ihrer Teeniezeit in die Hände, das auch mir noch sehr vertraut ist: Hefte und Ordner, die wir mit Bildern beklebt haben und die heute Geschichten unseres früheren Ichs erzählen.
Antoni schreibt einen Erfahrungsbericht über das Leben nach Covid und die Sorge, dass es nicht mehr wird wie es war.
Und Franziska stellt in ihrem Text Regeln für das Vergessen auf – auf poetisch-wunderbare Weise.
Du findest so gute Bilder, die noch sofort in den Text ziehen und mich nachdenken lassen. Danke! 😊
Ich versteh das Gefühl auch gut. Ich bin allerdings oft sehr dankbar, dass ich keine Bilder zu bestimmten Erlebnissen habe, der Körper hat dennoch alles abgespeichert und es war (ist) ein langer Weg, diese Spannungen (Flashbacks) langsam in vielen tausenden, schmerzenden Schritten zu lösen. Danke für deinen Mut, dass du das mit uns teilst.