Glaub niemals, du wärst aufgrund deiner chronischen Erkrankungen "nicht leicht zu lieben"
Scham und Schuld in engen Beziehungen, in denen Krankheiten eine Rolle spielen
Egal, ob es um deine Partner*in geht, um Freund*innen, Geschwister oder deine Eltern: Glaube niemals, du wärst aufgrund deiner chronischen Erkrankungen "nicht leicht zu lieben".
Wenn ich schreiben “glaube das niemals”, dann ist das natürlich ein hehrer Anspruch. Auch ich habe das mein halbes Leben geglaubt. Genauer gesagt bis vor wenigen Wochen. Bis es in einer verdammt guten Therapiestunde plötzlich “Klick” machte. Ein Satz meiner Therapeutin veränderte meine gesamte Perspektive – stell dir das vor wie eine Drehtür. Du hast dein Leben lang in einem Gebäude verbracht und es für die einzige Möglichkeit gehalten, die Welt zu sehen. Es war klein, eng und schmerzhaft darin, aber du kanntest es nicht anders. Und dann gehst du durch diese Drehtür und verstehst: Da ist ein ganz weiter, freier und vor allem schamfreier Raum da draußen! Dieser Moment war bahnbrechend für mich.
Ich habe aufgrund meiner chronischen Erkrankungen so viel Scham und Schuld internalisiert. Über viele Jahrzehnte. Auch, weil meine Erkrankungen unsichtbar sind und ich auf den ersten Blick so „gesund” erscheine. Nicht nur meine seelischen Erkrankungen sind unsichtbar (Angststörung, Depression, eine milde Ausprägung von Borderline), auch meine körperlichen, die mit der Zeit dazu kamen (Endometriose, Reizdarm, Migräne, Reflux).
Einige meiner Erkrankungen, allen voran meine Angststörung, reichen bis ins Kindergartenalter zurück. Ich konnte nicht, wie andere Kinder, problemlos das Haus verlassen, Kindergarten und Schule oder Feste und Geburtstage besuchen. Und leider haben bereits in meinen frühen Lebensjahren einige meiner Bezugspersonen mein “Nicht-Funktionieren”sanktioniert: mit tagelangem Schweigen, mit Liebesentzug, mit Wut, mit Drohungen. Wenn ich weinte und mich nicht beruhigen konnte, wurde ich in voller Klamotte unter die kalte Dusche gestellt.
Natürlich geschah das, weil sie von der Situation überfordert waren – seelische Erkrankungen waren damals noch viel tabuisierter und es gab keine öffentliche Debatte über mentale Gesundheit. Richtig war es trotzdem nicht. Durch ihr Verhalten mir gegenüber habe ich bereits als Kind verinnerlicht: „Wenn ich aufgrund meiner Erkrankungen nicht funktioniere, bin ich nicht liebenswert“.
Dieser Glaubenssatz hat sich tief in mein Gehirn gegraben. So tief, dass mir das lange nicht bewusst war. Ich habe mich quasi mit meinen Bezugspersonen gemein gemacht. Ich habe geglaubt, was sie sagten und ich glaubte, es verdient zu haben, so behandelt zu werden. Das ist als kleines Kind vermutlich der einzig mögliche Move gewesen. Sich aktiv gegen die Personen zu Wehr zu setzen, die das eigene Überleben sichern, das ist für Kinder fast unmöglich. Das fühlt sich existenziell bedrohlich an. Also geht man in eine Art “Stockholm-Syndrom”-Modus und stellt sich auf die Seite derer, die einen abwerten und verurteilen.
Auf die Dauer wurde ich so zu meiner eigenen härtesten Richterin. Wenn es mir schlecht ging und ich deshalb Treffen und Verabredungen absagen musste oder nicht zur Schule gehen konnte, habe ich mich selbst noch zusätzlich beschimpft, bestraft und mich später auch auf körperlicher Ebene verletzt.
Meine Kindheit war getränkt von Scham. Und als Erwachsene blieb das so. Wann immer Menschen mit Liebesentzug auf die Auswirkungen meiner Erkrankungen reagierten, reagierte ich auf mich genauso. Ich war ja „schwer zu lieben“. Es war schwer, „es mit mir auszuhalten“, das Leben mit mir war “eine Belastung” für alle, die näher mit mir zu tun hatten. “Niemand konnte doch sowas auf Dauer aushalten“ – solche Gedanken begleiteten mich jahrelang. Auch der Drang nach körperlicher Selbstverletzung, den ich zum Glück dank meiner Therapie schließlich überwinden konnte, speiste sich aus dieser Quelle. Diese Art der Auto-Aggression war für mich ganz „normal“.
Das war eben meine Reaktion: Traurigkeit. Verzweiflung. Scham. Manchmal flackerte auch so etwas wie (berechtigte!) Wut auf die anderen auf und ich versuchte, mich zu wehren. Wurde ich verbal attackiert, entgegnete ich, dass es ja durchaus auch Menschen gab, die Verständnis zeigten und die mit meinen Erkrankungen zurechtkamen. Aber dann bekam ich zu hören, dass das eben nur der Fall sei, weil diese Personen nicht so viel Zeit am Stück mit mir verbrachten und sie nur deshalb so liebevoll und geduldig bleiben konnten. Diese Worte taten weh. War ich nur in homöopathischen Dosen “erträglich”? War ich einfach “zu anstrengend”, sobald man mehr Zeit mit mir verbrachte? Körperlich und seelisch geschwächt, wie ich in diesen Momenten war, richtete ich die Wut schließlich wieder gegen mich selbst.
Ich lernte schlichtweg nicht, dass es auch andere Reaktionen auf Krankheit und nicht-Können hätte geben können: Verständnis. Trost. Fürsorge.
Ich lernte auch nicht, dass meine Wut über das unangemessene Verhalten meiner Bezugspersonen berechtigt war. Erst vor gut zwei Monaten, gestärkt durch meine Therapie, konnte ich diese Wut mehr und mehr spüren. Vor zwei Wochen hatte ich genau zu diesem Thema eine Therapiestunde – und mit einem Mal konnte ich eine Perspektive einnehmen, die ich nie zuvor hatte einnehmen können. Ein Satz meiner Therapeutin brachte es so auf den Punkt, dass ich da saß wie vom Vorschlaghammer getroffen und dachte: Oh mein Gott. SO kann die Welt auch sein?
Der Satz von ihr lautete: “Wie können Sie denn ein barrierefreies Leben für sich gestalten?”
Wie konnte ich ein barrierefreies Leben für mich gestalten? Für mich? Diese Frage hatte ich mir NIE gestellt. War das mein Recht? Mein Anspruch? Durfte ich das? Beim Wort „barrierefrei“ hatte ich in der Vergangenheit eher an Rampen für Rollstühle und Aufzüge für Kinderwägen gedacht, an niedrige Küchenzeilen und Duschen ohne hohen Einstieg. Ich hatte nie an mich gedacht. Ich hatte nie geglaubt, ein barrierefreies Leben und Umfeld verdient zu haben. Plötzlich wurde mir klar, dass ich nicht nur in einer ableistischen (also Behinderungen diskriminierenden) Gesellschaft lebe – sondern dass ich in vielen Phasen meines Lebens (aber nicht in allen) auch von einem ableistischen nahen Umfeld umgeben war. Dessen Maßstäbe ich übernommen hatte, obwohl ich nie auch nur den Hauch einer Chance gehabt hatte, ihnen gerecht zu werden.
Mein ganzes Leben lang habe ich versucht, mich “passend zu machen”. Habe mich gefragt: Wie kann ich in diese Welt passen? Wie kann ich die Erwartungen der anderen erfüllen? Die der Gesellschaft? Die meiner Bezugspersonen? Die meistens wesentlich gesünder waren und über ganz andere Ressourcen verfügten als ich.
Die Frage meiner Therapeutin drehte meine Blickrichtung. Es ging nicht mehr darum, für die anderen richtig zu sein. Sondern ein Umfeld für mich zu erschaffen, das für mich richtig war. So wie ich war. Nicht gesünder. Nicht funktionierender. Sondern genau so, mit meinen Erkrankungen und meinen damit verbundenen Einschränkungen.
Denn ich bin so viel mehr als diese Erkrankung. Ich bin liebevoll, empathisch, klug, witzig, ich habe spannende Gedanken und Ideen und sprudele vor Kreativität. Liebend gerne rede ich über Bücher, Feminismus, Politik, Kunst, Kapitalismuskritik und Katzen. Da ist so viel, das ich geben kann. Mein großes Herz. Meine Lebenserfahrung. Meine Schlagfertigkeit. Und ich darf entscheiden, wer in den Genuss kommt, meine Gesellschaft zu haben. Wer in meinen engeren Kreis kommen darf. Dieser Kreis ist kostbar. Es ist ein besonderer, schützenswerter Raum.
Meine Wut zu spüren über die Verletzungen, die mir in diesem Raum zugefügt worden waren, war für mich ein Schlüssel zur Veränderung. Wut ist kein überflüssiges Gefühl. Wut hat einen Sinn. Wut ist dafür da, dass wir eine Grenze anzeigen und sagen: Bis hierhin und nicht weiter. Als Kind konnte ich das nicht. Aber heute kann ich das. Ich muss nicht alles ertragen und erdulden, sondern ich habe einen Gestaltungsanspruch. Und darf entscheiden, wer mir nah sein darf und wer nicht.
Bei der ganzen Sache ist es mir wichtig, die Angehörigen von chronisch erkrankten Menschen nicht zu vergessen. In diesem Artikel soll keinesfalls der Eindruck entstehen, dass ihnen ihre Gefühle abgesprochen werden sollen. Wut, Frust, Enttäuschung, all das kommt im Alltag mit chronischen Erkrankungen vor und das darf es auch. Die Frage ist nur, was man mit diesen Emotionen macht. Äußere ich sie so, dass ich die Krankheit adressiere? Und bleibe damit auf der Seite der erkrankten Person? Oder richte ich die Gefühle gegen sie persönlich? Gebe ich ihr die Schuld?
Was leider auch oft passiert: Angehörige glauben, sie hätten kein Recht auf diese “negativen” Gefühle. Also schlucken sie sie herunter. Aber so ganz rückstandslos funktioniert das nicht. Entweder entladen sie sich dann an anderer Stelle umso explosiver oder sie treten als kleine, fiese Spitzen in Erscheinung, die die erkrankte Person unvorbereitet treffen und verletzen.
Natürlich ist es legitim, überfordert zu sein von all den Folgen, die eine chronische Erkrankung im Alltag hat. Eine chronische Erkrankung ist beschissen. All das, was man versäumt. Immer wieder und wieder diese riesengroße Enttäuschung. Es bricht einem das Herz. Nicht nur den Erkrankten, auch ihren Angehörigen. Es ist deshalb so wichtig, dass sie Zeit und Raum für sich haben. Dass sie sich nicht aufopfern, bis sie zusammenbrechen oder vollkommen aus der Haut fahren, sondern auch noch Platz bleibt für ihre Wünsche. Dass sie Ausflüge oder Urlaube allein planen, auf die man sie nicht begleiten kann. Ich glaube, es ist auch ganz entscheidend, dass sie das ohne schlechtes Gewissen machen dürfen und man es ihnen von Herzen gönnt. Und die Last sollte, wo immer möglich, auf mehrere Schultern verteilt werden – auch die Gespräche über Symptome. Die Erkrankung sollte nicht das alleinige Thema werden, das alle anderen verschlingt.
Beide müssen also lernen, berechtigte Grenzen zu setzen. Angehörige UND Erkrankte. Beide haben darauf ein Recht. Auf liebevolle, aber bestimmte Weise. Dabei sollte aber vermieden werden, die Verantwortung für die eigene Enttäuschung der erkrankten Person zu Last zu legen. Sie trägt schon schwer genug. Sie hat sich diese Erkrankung nicht ausgesucht. Sie kämpft jeden Tag tapfer darum, trotz alldem ihr Leben zu gestalten. Jede Form von Liebesentzug oder Abwertung aufgrund von Symptomen ist fehl am Platz. (Das ist sie natürlich sowieso – auch ohne chronische Erkrankung.)
Auch meine Therapeutin erinnerte mich in unserer Stunde daran. Sie sagte: “Schauen Sie auf die Verantwortlichkeiten. Sie sind nicht verantwortlich für die Enttäuschung der anderen. Sie tragen schon Ihre eigene. Versuchen Sie, die Verantwortung dort zu lassen, wo sie hingehört. Es ist nicht fair, wenn Sie zusätzlich noch Schuld auf sich nehmen, die sie gar nicht haben.”
Das zu üben, ist ab jetzt meine Aufgabe. Sie ist nicht leicht. Die alten Muster haben lange Bestand gehabt. Seit meiner Kindheit haben sich Scham und Schuld auf mir abgelagert wie Muscheln am Pier. Mit jedem Tag, mit jedem Wort, mit jedem Schweigen, mit jeder Beleidigung. Schicht um Schicht. Es wird mit Sicherheit eine Weile dauern, bis ich diese Verkrustungen gelöst habe.
Aber gleichzeitig fühle ich auch eine ganz neue Stärke in mir. Von der tiefen, verwurzelten Sorte. Ich habe erkannt, dass ich den Anspruch haben darf, von solchen Menschen umgeben zu sein, die meine Gesellschaft genießen. Die Verständnis für meine Erkrankung haben und mich trotzdem immer für die Person schätzen können, die ich neben meinen Erkrankungen bin. Das können nicht alle. Aber manche können es so gut. Ich möchte einer dieser Menschen werden.
PS: Weil es da draußen toxische Narrative gibt, die so klingen wie: “Du bist erst in der Lage, gute Beziehungen und Freundschaften zu führen, wenn du dich selbst 100% lieben kannst”. Erstens: Niemand liebt sich jeden Tag zu 100%. Das ist Bullshit. Zweitens: Natürlich können dich Menschen lieben. Genau so, wie du jetzt bist, genau an dem Punkt, an dem du auf deiner Reise stehst. Vielleicht können sie dir sogar ein Vorbild sein und dir zeigen, auf wie wunderbare und vielfältige Weise man dich lieben kann. Vielleicht könnt ihr das gemeinsam entdecken. Und dann, jeden Tag, weiter kultivieren.
Das Thema interessiert dich? Hier habe ich mehr über die Auswirkungen von chronischen Erkrankungen auf Partnerschaft geschrieben.
Und ich darf entscheiden, wer in den Genuss kommt, meine Gesellschaft zu haben. Wer in meinen engeren Kreis kommen darf. Dieser Kreis ist kostbar. Es ist ein besonderer, schützenswerter Raum." Einfach nur pure Liebe für diese Worte ❤ Und ich spüre die Kraft und den "Kawums" dahinter. Sehr starke Sprache, liebe Kea 🙂💛
Oh Kea, ich bin zutiefst gerührt und fühl das so sehr! Danke dir für deine Worte, die wirken gerade echt wie eine Heilcreme für einige Wunden 😭❤️