Reisen trotz Angststörung: Ich schreibe dir aus Paris!
3 Tipps, die mir dabei geholfen haben, meinen Traum wahr zu machen.
Paris war einer dieser „das-mache-ich-auf-jeden-Fall-mal“-Träume. Ich war mir immer sicher, dass ich diese Stadt lieben würde und ich war mir immer sicher, dass ich eines Tages dort sein würde. Aber in meinem Leben, das stark von meiner Angststörung und meinem Reizdarm bestimmt wird, rückte dieses „irgendwann“ immer weiter in den Hintergrund. Es verging Jahrzehnt um Jahrzehnt. Erst jetzt, mit 38, wagte ich die Reise ins Herz von Frankreich.
Nichts daran ist normal für mich. Selbstverständlich. Einfach ein netter Urlaub, wie wahrscheinlich für viele der Tourist*innen, die hier neben mir in Cafés, auf Booten und Bänken sitzen. Eine solche Reise hat in meinem Leben Seltenheitswert.
Auch, weil Urlaub finanziell für mich oft nicht drin war/ist. Aber vor allem, weil meine chronischen seelischen und körperlichen Erkrankungen diesem Teil des Lebens einen Riegel vorschoben. Mit 17 kamen damals die Panikattacken in mein Leben und damit geriet das Thema “Reisen” beinahe vollständig außer Sichtweite.
Wie oft habe ich die deutsche Landesgrenze in meinem Leben überhaupt hinter mir gelassen?
In meinem Leben ingesamt sieben Mal. In 38 Jahren. Viele Reisen davon fanden noch in meiner Kindheit und Jugend statt. In den letzten 20 Jahren war ich drei Mal im Urlaub.
Dabei ist der jährliche Urlaub in unserer Gesellschaft für die meisten so “normal” geworden. Eher die Regel als die Ausnahme. Wenn andere darüber sprachen, wohin sie „dieses Jahr“ fahren würden, konnte ich nie mitreden. Und lange verstaute ich meine Wünsche deshalb in einem Koffer auf dem gedanklichen Dachboden. Weil es zu schmerzhaft war, mit ihnen in Berührung zu kommen. »Für mich gibt es eben keinen Urlaub« – das war lange meine Wahrheit, meine Schutzbehauptung, nach dem Motto „die Trauben, die ich nicht haben kann, sind mir eh zu sauer“. Wer Probleme hat, es zum nächsten Supermarkt zu schaffen, der denkt eben nicht an Auslandsreisen und Kofferpacken. Es ist einfach out of reach.
Reisen in Länder, deren Sprache ich nicht fließend beherrsche, kosten mich besonders viel Mut. Das liegt daran, dass der hypochondrische Anteil meines Gehirns Angst davor hat, dass ich mich in einem medizinischen Notfall nicht ausreichend verständigen könnte. Deshalb ist eine Reise nach Frankreich oder Spanien für mich angstbesetzter als eine Reise nach Österreich oder England. Was mache ich, wenn ich im Ausland krank werde? Diese Sorge fährt immer mit. Und da kommt es schon mal vor, dass ich im Vorfeld auschecke, wie nah die Unterkunft am nächsten Krankenhaus liegt.
Bevor es losgeht, schlafe ich schlecht. Checke zig mal, ob ich alle Medikamente dabei habe, die ich brauche oder eventuell brauchen könnte. Da denke ich beim Packen schon manchmal: »Oh man, dein Mann packt einfach seine Klamotten und die Zahnbürste ein und los geht’s. Wieso ist bei dir alles so kompliziert?« Aber im Moment sind es eben gewisse Vorkehrungen, die ich (noch) brauche und die die Abfahrt überhaupt erst möglich machen.
Was mir dabei geholfen hat, die Reise nach Paris zu unternehmen:
Wir sind mit dem Auto angereist und nicht mit dem Zug – auch wenn das ökologisch natürlich nicht die beste Variante ist. Da ich nie fliege, gleiche ich das an anderer Stelle hoffentlich wieder aus. Das Auto gab mir ein Stück Heimat, das ich mitnehmen konnte. Es gab mir die Flexibilität, auf dem Weg so viele Pausen zu machen, wie ich brauchte.
Wir haben das Thema “Essen” gut geplant. Ich muss eine große Tüte Lebensmittel mitnehmen, wenn ich länger weg bin, weil ich aufgrund des Reizdarms nicht „einfach so“ irgendwo essen gehen kann und ich auch nicht davon ausgehen kann, die Spezialprodukte ohne Gluten/Fructose etc. überall zu bekommen, die ich zum Kochen brauche. Auch deshalb war das Auto mit seinem geräumigen Kofferraum eine gute Wahl. Unabdingbar war auch, dass unsere Unterkunft eine eigene Küchenzeile hat, damit ich mir vor Ort etwas kochen und in Tupperdosen auch auf Tagesausflüge genügend Essen mitnehmen kann.
Nach Sehenswürdigkeiten und Orten, die wir hier gern besuchen wollten, haben wir erst geschaut, als wir angekommen waren – einfach, um keinen unnötigen Erwartungsdruck aufzubauen. Denn der allein kann schon zu einer Angstattacke führen. Die Reise an sich war aufregend genug. Was wir machen, das entscheiden wir nach Tagesform und Lust und Laune.
Was ich nicht extra aufgeführt habe, aber an all meinen Erfolgsmomenten natürlich immer einen großen Anteil hat: Die Früchte meiner langjährigen Therapien und die Unterstützung meiner aktuellen, wundervollen Therapeutin.
All das hat dazu beigetragen, dass aus dem „irgendwann“ meiner Träume ein „jetzt und hier“ der Wirklichkeit werden konnte. Als ich vorgestern Abend auf den Treppen vor Sacré-Cœur stand, ein Straßenmusiker für die Menschen, die sich auf den Stufen versammelt hatten, Lieder spielte und uns die ganze Stadt zu Füßen lag – da trieb es mir die Tränen in die Augen.
Ich war wirklich hier! Ich, die Frau mit den krassen Ängsten, mit diesem winzig kleinen Radius, mit dem Leben, das lange Jahre gefühlt in eine Streichholzschachtel gepasst hätte – ich stand vor der schönsten Kirche Frankreichs, sah auf die Dächer voller Schornsteine, lauschte der Musik und hatte den Duft von Flieder in der Nase. So viel Weite. So viel Leben!
Ich genieße diese vier Tage Paris, die mein Mann mir zum Hochzeitstag geschenkt hat. Und irgendwie profitiere ich von meiner überstandenen Endometriose-Operation im Frühjahr. Nach der OP kann ich so etwas wie diese Reise gelassener angehen, weil ich weiß: Das Krassteste habe ich schon geschafft. Alles andere schaffe ich auch.
Seit wir hier angekommen sind, habe ich übrigens nicht eine Panikattacke gehabt. Und auch keine gravierende Darmkrise (das übliche Unwohlsein mal ausgenommen). Ich hatte ab und zu leichte Ängste – aber sie legten sich schnell wieder. Paris, so scheint es, streckt mir seine Arme entgegen. Es nimmt mich auf seinen Schoß, wie eine alte, großbusige Tante und raunt mir ins Ohr, dass ich keine Angst zu haben brauche.
Und so bin ich in den letzten Tagen auf einem Schiff über die Seine gefahren, habe in einem der schönstem Buchläden der Stadt eine alte Ausgabe von Virginia Woolfs “A room of one’s own” gekauft und bin am Fuße des Eifelturms auf einem Karussell gefahren.
Und ich war sehr gerührt, als mir eine Follower*in auf Instagram schrieb, dass ihre Tochter ebenfalls an einer Angststörung leide und dass meine Stories aus Paris ihr Hoffnung gemacht haben, dass so etwas auch für ihr Kind eines Tages wieder möglich sein wird.
Ich glaube fest daran.
Manchmal dauert es eine gefühlte halbe Ewigkeit. Manchmal gehen Jahrzehnte ins Land, in denen man denkt, das gewisse Dinge einfach nicht für einen gemacht sind. Dass man zufrieden sein soll mit dem, was geht. Und das soll man natürlich auch. Aber es lohnt sich, hin und wieder zu testen, ob sich die alten Grenzen überlebt haben und man mit neuen Fähigkeiten den Horizont um ein paar Meter erweitern kann. Möglich, dass man dann eines Tages ein Fenster öffnet, die Aprilsonne hereinscheint und die Menschen auf der Straße Französisch sprechen.
PS: Weil Nachfragen kommen – Auszüge aus meinen Substack-Posts darfst du gerne per Screenshot, zum Beispiel auf Instagram, teilen. Wenn dich etwas inspiriert und du es teilen möchtest, ist das doch das schönste Kompliment für meine Arbeit. Ich freue mich immer, wenn die Hinterhofgedanken weitergetragen werden.
Urlaub ist leider so ein Statussymbol in unserer Gesellschaft. Dabei gibt es viele Gründe, warum Menschen nicht auf Bali surfen gehen oder mal eben ein Wochenende nach London fahren, z.B. Einkommen, Familiensituationen oder eben aber chronische Krankheiten. Danke mal wieder für diesen Einblick, Kea, der uns alle etwas achtsamer macht im Leben mit Selbstverständlichkeiten (die ja für alle etwas anderes sind). Hab noch eine schöne Zeit :)
Wie wundervoll 🥰🥰🥰 Und das Foto ist der Hammer 😉💐 Ganz liebe Grüße